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Aug 02

Attacke am Frankfurter Hauptbahnhof: Etwas stimmt nicht in Deutschland

Nach der Attacke in Frankfurt wirkt Deutschland seltsam unsicher und fragil.
(Bild: Armando Babani / EPA)

Der Innenminister unterbricht die Ferien. Die Sicherheit an den Bahnhöfen steht auf dem Prüfstand. Die Asyl- und Willkommenspolitik steht wieder in heftiger Kritik. Die Reaktionen auf die tödliche Attacke von Frankfurt zeigen: Deutschland ist aus der Balance geraten.

Die tödliche Attacke auf einen achtjährigen Jungen am Frankfurter Hauptbahnhof hat in Deutschland eine grosse kollektive Anteilnahme ausgelöst. Das ist bei einem solch hinterhältigen und brutalen Verbrechen an einem Kind auch nicht verwunderlich. Diese Tat geht nah. Wie viele Mütter und Väter haben mit ihren Kindern am Perron schon auf den Zug gewartet? Trotzdem übersteigen die Reaktionen in ihrer Heftigkeit das Erwartbare. Der deutsche Innenminister unterbricht die Ferien und beruft eine Pressekonferenz ein. Zwar bemäntelt er diese Massnahme mit dem Hinweis, es gebe zig kriminelle Vorfälle, über die man sich nun beraten müsse. Aber eigentlich geht es nur um eines: die Attacke in Frankfurt.

Die massgeblichen deutschen Zeitungen haben schon am Tag des Verbrechens einen politischen Kommentar geschrieben über eine Nachricht, die in früheren Jahren möglicherweise unter der Rubrik «Panorama» abgehandelt worden wäre. Die Stimmung bei Twitter und Facebook ist geradezu fiebrig. AfD-Politiker und -Sympathisanten benutzen den Fall, um mit der Flüchtlingspolitik und der Willkommenskultur abzurechnen. Die Gegner reagieren angeekelt: Sie halten ihnen vor, ihr Mitgefühl nur dann zu mobilisieren, wenn der Täter ein Ausländer und das Opfer ein Deutscher ist.

Warum löst dieser eine Fall solche Reaktionen aus? Etwas stimmt nicht in Deutschland. Das Land wirkt seltsam unsicher und fragil. Die tödliche Attacke eines in der Schweiz wohnhaften Eritreers auf einen achtjährigen Jungen kann kein Beleg dafür sein, dass die deutsche Flüchtlings- und Sicherheitspolitik gescheitert ist. Die Reaktionen zeigen aber, dass viele Leute mit der deutschen Zuwanderungspolitik nicht einverstanden sind; die Diskussionen über neue Sicherheitsmassnahmen an Bahnhöfen zeigen, dass sich viele Leute nicht sicher fühlen. Sie sind berechtigterweise frustriert, weil der Staat dabei versagt, Abschiebungen durchzuführen und besonders Querulanten auszuschaffen, die das Asylsystem in Deutschland ausnutzen. Sie sind vermutlich auch darüber frustriert, dass in Deutschland eine «Werteerosion» stattzufinden scheint, wie sich Seehofer ausgedrückt hat. Dass an seiner Pressekonferenz die Attacke von Frankfurt gleichzeitig mit der Clan-Kriminalität in deutschen Städten, mit dem EU-Aussengrenzenschutz, den Pöbeleien und Respektlosigkeiten in deutschen Badeanstalten und dem Mordfall Lübcke verhandelt wurde, hatte vielleicht auch sein Richtiges. Es sind Koordinaten für das Gefühl eines Kontrollverlusts.

Gedenkgottesdienst am Dienstag vor dem Frankfurter Hauptbahnhof: Einen Tag zuvor wurde ein achtjähriger Junge auf ein Gleis geschubst und kam dabei ums Leben. (Bild: Armando Babani / EPA)

Gedenkgottesdienst am Dienstag vor dem Frankfurter Hauptbahnhof: Einen Tag zuvor wurde ein achtjähriger Junge auf ein Gleis geschubst und kam dabei ums Leben. (Bild: Armando Babani / EPA)

Dieses Gefühl kann man Medien und Populisten in die Schuhe schieben, wenn man es sich leichtmachen will. Probleme hören aber nicht auf, wenn man sie nicht mehr thematisiert. Es ist auch das Resultat einer Politik, die die Sicherheitsbedürfnisse vieler Bürger nicht ernst genug nimmt und die ihre Versprechungen für eine geordnete Asylpolitik und die Integration von Ausländern bis jetzt nicht befriedigend einlöst.

Während dieses einzelne Verbrechen ein ganzes Land in Unruhe zu versetzen scheint, passiert aber wieder etwas Irritierendes, das für Deutschland vielleicht so symptomatisch ist wie die Hysterie. Die ARD-Tagesschau berichtete am Montagabend über die Attacke in Frankfurt mit einem kümmerlichen Beitrag, im hinteren Teil der Sendung; als hätte die Redaktion nicht wahrgenommen, dass dieses Thema gerade ganz Deutschland bewegt. Man fühlte sich ein wenig an die Zeit der Flüchtlingskrise erinnert: Nur nicht die Stimmung gefährden. Dass diese äusserst fragil ist, zeigt sich nur schon daran, dass sich der deutsche Innenminister veranlasst fühlte, eine ausserordentliche Pressekonferenz einzuberufen. Er ist aus den Ferien zurückgekehrt, um sein Land zu beruhigen.

Quelle: Neue Züricher

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