Dreissig Jahre nach Maueröffnung und Wiedervereinigung ist Deutschland zutiefst gespalten. Die Linke träumt vom Sozialismus und pflegt das Erbe der DDR-Diktatur. Die Bürgerlichen machen sich Sorgen um Freiheit und Demokratie. Die Gefahren der sozialistischen Ideologie bleiben unterschätzt.
Im Jahr 1999 hat der damalige deutsche Bundespräsident Johannes Rau in seiner Fernsehansprache zum zehnten Jahrestag des Mauerfalls den 9. November 1989 wie folgt gewürdigt: «Der 9. November 1989 ist ein grosser Tag in unserer Geschichte. Er steht für Freiheit, Bürgermut und die Hoffnung auf eine gute Zukunft.» Ich denke, dass wir uns auch heute seiner Bewertung anschliessen können. Den von ihm verwendeten Ausdruck «Bürgermut» möchte ich besonders hervorheben. Ich möchte daran erinnern, dass die «sozialistischen Brüder und Freunde» des SED-Regimes in Peking im Juni 1989 auf dem Platz des Himmlischen Friedens den Mut der chinesischen Bürger durch Panzerkolonnen niederwalzen liessen. Die sogenannte Volkskammer der DDR erklärte sich am 8. Juni 1989 solidarisch mit den chinesischen Gewaltherrschern, öffentlich unterstützt durch DDR-Aussenminister Oskar Fischer, Volksbildungsministerin Margot Honecker oder den stellvertretenden Staatsratsvorsitzenden Egon Krenz. Der Chef der KP China dankte «für die Gefühle brüderlicher Verbundenheit».
Das muss man im Hinterkopf haben, wenn man die Demonstrationen in der DDR im Herbst 1989 würdigen will. Auch eine «chinesische Lösung» schien für einige im DDR-Regime eine Option zu sein. Trotzdem gingen die Menschen auf die Strasse: erst wenige im Juni 1989 gegen die Fälschung des Kommunalwahlergebnisses durch die SED, dann bei der Leipziger Montagsdemonstration am 4. September 1989, dann Hunderte, Tausende, Hunderttausende bei den weiteren Montagsdemonstrationen in Leipzig, Plauen und an vielen Orten der DDR. Es gingen Bürger auf die Strasse, die Angst um ihr Leben und ihre Freiheit hatten. Sie waren es, die das SED-Regime in die Knie zwangen, nicht diejenigen, die es sich unter dem Regime haben gutgehen lassen, die von einem Sozialismus mit Glasnost und Perestroika träumten und die nachher trotz allem Karriere machten.
In Westdeutschland verfolgten wir damals die Ereignisse in der DDR mit grosser Spannung im Fernsehen und in der Presse. Die allermeisten hofften auf eine Befreiung der Deutschen in der DDR vom Sozialismus und auf eine Wiedervereinigung. Für viele Intellektuelle und für Teile der linken politischen Elite waren die Ereignisse im Herbst 1989 in der DDR und der Prozess der deutschen Wiedervereinigung ein Schock. Teilweise betrachtete man die Führung der SED-Diktatur als Partner auf Augenhöhe und setzte sich für deren Forderungen ein, ja, man liess sich von der SED vor deren Karren spannen. Herzensanliegen der Parteiführung waren die Anerkennung der DDR-Staatsangehörigkeit und damit die Aufgabe einer einheitlichen deutschen Staatsangehörigkeit sowie die Abschaffung der Zentralen Beweismittel- und Dokumentationsstelle für Menschenrechtsverletzungen des SED-Regimes in Salzgitter.
Noch im Jahr des Mauerfalls besuchte der damalige schleswig-holsteinische Ministerpräsident und zwischenzeitliche SPD-Vorsitzende Björn Engholm Ostberlin und sagte Honecker zu, sich für diese Herzenswünsche einzusetzen. Das im Grundgesetz enthaltene Gebot der Wiedervereinigung Deutschlands war auch von der politischen Linken der alten Bundesrepublik aufgegeben worden. Bereits ab Beginn der 1970er Jahre entwickelte sich bei Sozialdemokraten und linken Journalisten und Intellektuellen die Haltung, sich mit dem bestehenden Status quo der zwei deutschen Staaten anzufreunden, die Zweistaatlichkeit sogar für richtig zu halten und dies moralisch damit zu begründen, dass dies eine gerechte Bestrafung für den von Deutschland verursachten Zweiten Weltkrieg sei.
Schaudernd abgewandt
Der ursprünglich parteiübergreifende Konsens in der alten Bundesrepublik, der auch Ausdruck in der Präambel des Grundgesetzes gefunden hatte, dass die Deutschen die Wiedervereinigung ihres Vaterlandes anstrebten, war von der politischen Linken schrittweise aufgegeben worden. Wer sich weiterhin dafür einsetzte, wurde als ewiggestrig, als Kalter Krieger und als Rechter diffamiert. Willy Brandt nannte 1984 die Wiedervereinigung eine «Lebenslüge». Gerhard Schröder sagte im Juni 1989: «Nach vierzig Jahren Bundesrepublik sollte man eine neue Generation in Deutschland nicht über die Chancen einer Wiedervereinigung belügen.» Der spätere SPD-Finanzminister Hans Eichel meinte noch im November 1989: «Diejenigen, die derzeit von Wiedervereinigung daherreden, haben aus der Geschichte nichts gelernt.» Der Grüne Joschka Fischer forderte noch am 29. Juli 1989, das Wiedervereinigungsgebot aus dem Grundgesetz zu streichen, und sagte im Oktober 1989, als Hunderttausende an den Montagsdemonstrationen teilnahmen: «Vergessen wir die Wiedervereinigung. Halten wir die nächsten zwanzig Jahre die Schnauze darüber.»
Die westdeutschen Intellektuellen und die linken Politiker wandten sich schaudernd ab, als die Deutschen in der DDR im Frühjahr 1990 dem Besucher Helmut Kohl zujubelten und riefen: «Wir sind ein Volk!» Das linke Establishment hatte die Wiedervereinigung nicht nur aufgegeben, sondern war auch nicht mehr bereit, für die eigenen Werte der Bundesrepublik zu kämpfen. Aus meiner Sicht ist dies eines der düstersten Kapitel der deutschen Linken und insbesondere der deutschen Sozialdemokratie.
Die entgegenkommende Haltung gegenüber der SED-Diktatur hatte auch eine andere Auswirkung: In der alten Bundesrepublik war man sich der Gefahren durch den Osten teilweise nicht mehr bewusst. Wer glaubte, mit dem SED-Regime auf partnerschaftliche Weise reden zu können, vergass, dass dieses Regime nicht nur Menschenrechte mit Füssen trat, sondern auch die freiheitliche Demokratie des Grundgesetzes mit allen Instrumenten bekämpfte. Dazu gehörten Desinformation, Agitation, Bestechung, Erpressung und auch die Unterstützung der Terrororganisation RAF, um nur einige Beispiele zu nennen. Von den mindestens 2000 DDR-Agenten in der alten Bundesrepublik wurde vermutlich nur ein geringer Teil enttarnt.
Glaube an die Zukunftsfähigkeit
Wo steht Deutschland jetzt? Ohne den Mauerfall und ohne die dann folgende Wiedervereinigung stünden wir heute woanders, das heutige Deutschland würde anders aussehen. Im Osten wie auch im Westen. Die Vergangenheit ist allerdings oft nicht leicht zu erkennen. Der Mensch neigt dazu, aus der historischen Distanz manches wohlwollend und linear zu sehen. Die Geschichte reduziert sich dann auf einen Erzählstrang, auf ein Narrativ. Der Bürgerrechtler und Organisator der Montagsdemonstrationen in Dresden und heutige Bundestagsabgeordnete Arnold Vaatz sagte kürzlich dazu: «Die Deutungshoheit über den Herbst 1989 haben heute Hobby-Marxisten.» Das Narrativ von 1989 ist danach simpel: 1989 war das Jahr der «friedlichen Revolution».
Vor diesem Hintergrund erscheinen mir drei Aspekte aus dem Herbst 1989 wichtig, die nach meinem Eindruck zu wenig Beachtung gefunden haben. Erstens hat die Stasi, jedenfalls im Herbst 1989, nicht vor den Bürgerprotesten kapituliert, sondern mit einem hohen Kräfteeinsatz versucht, die Bürgerbewegung auf den Strassen zu kontrollieren und auch die neugegründeten Organisationen und Parteien unter Kontrolle zu halten, indem sie sie mit eigenen Kräften infiltrierte und unterwanderte. Dabei konnte sie sich auch auf die Evangelische Kirche der DDR verlassen, die ein tragender Pfeiler des SED-Regimes war.
Zweitens gab es neben der Widerstandsbewegung oder Protestbewegung der Bürger noch eine zweite Bewegung, die eine Veränderung des DDR-Regimes anstrebte. Es waren Funktionäre wie Hans Modrow und Markus Wolf, die das orthodoxe SED-Regime von Honecker als nicht mehr zukunftsfähig ansahen, die aber an die Zukunftsfähigkeit des Sozialismus glaubten und die DDR im Sinne von Glasnost und Perestroika umgestalten wollten. Diese «Perestroikisten» arbeiteten hinter den Kulissen an einer Absetzung von Honecker und einer Neubesetzung der Führungspositionen mit Reformern. Spätestens Ende 1989 sah die Gruppe die Aussichtslosigkeit des Vorhabens ein, hatte aber viele Personen mit erwiesenem oder vermutetem nachrichtendienstlichem Hintergrund in Bürgerrechtsbewegungen in Führungsfunktionen gebracht.
Drittens hatten die westdeutschen Eliten die Gefahren der sozialistischen Ideologie unterschätzt. In der Wiedervereinigungseuphorie gingen sie davon aus, nun sei der Sozialismus besiegt, der Gegner strecke seine Waffen. Es war aus meiner Sicht eine naive Annahme, für die es keinen Grund gab. Rückblickend ist es verwunderlich, dass Anfang der 1990er Jahre kaum jemand öffentlich die Frage stellte, warum so viele zumindest durch eine Tätigkeit für die Stasi, möglicherweise auch für den KGB, nachrichtendienstlich belastete Personen plötzlich in Führungspositionen kamen.
Gründe für die Beunruhigung
Gewiss, im Osten ist viel erreicht worden. Vergleicht man die maroden Städte von 1987 mit heute, dann ist es uns gelungen, aus verfallener Bausubstanz und maroder Infrastruktur blühende Landschaften zu schaffen, wie Helmut Kohl es in Aussicht gestellt hatte. Auch die wirtschaftliche Situation hat sich in vielerlei Hinsicht wesentlich verbessert. Laut Angaben der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages sind rund 1600 Milliarden Euro in den Osten investiert worden. Zusätzlich erfolgten noch direkte Finanztransfers in Höhe von 560 Milliarden Euro.
Bei meinen Wahlkampfauftritten in Sachsen und in Thüringen bin ich mit vielen Menschen ins Gespräch gekommen, die nicht wegen der wirtschaftlichen Lage, sondern aus anderen Gründen zutiefst beunruhigt sind. Wiederholt wurde gesagt, dass sich das heutige Deutschland schrittweise von dem Deutschland entferne, für das man 1989 demonstriert und das man sich mit der Wiedervereinigung erhofft habe. Mir sagten Menschen in Plauen, in Radebeul, in Suhl, Meiningen und anderswo, dass sie vor dreissig Jahren nicht auf die Strasse gegangen seien, um wieder Sozialismus zu haben. In vielen Augen sah ich Zorn, Wut, Hass und Traurigkeit. An politischen Veranstaltungen in Westdeutschland erlebte ich Ähnliches. Ich möchte zehn Punkte nennen, die mir dreissig Jahre nach dem Mauerfall Sorge um die Stabilität unserer Demokratie und um die Zukunft Deutschlands bereiten und auf die ich auch angesprochen wurde:
1. Die Meinungsfreiheit – In breiten Bevölkerungsschichten herrscht der Eindruck, die Meinungsfreiheit sei in Deutschland nicht mehr gewährleistet. Nach der kürzlich veröffentlichten Shell-Jugendstudie, die jährlich erscheint, stimmten 68 Prozent der befragten 2572 Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen zwischen 12 und 25 Jahren der Aussage zu: In Deutschland darf man nichts Schlechtes über Ausländer sagen, ohne gleich als Rassist beschimpft zu werden. Das Institut für Demoskopie Allensbach kam jüngst in seiner Untersuchung über die «Grenze der Freiheit» zu dem Ergebnis, dass fast zwei Drittel der Befragten finden, man müsse heute sehr aufpassen, zu welchen Themen man sich wie äussere. Nur 23 Prozent sahen das nicht so. Wenn über 70 Prozent der Menschen in Deutschland der Auffassung sind, dass sie nicht mehr frei ihre Meinung äussern können, haben wir ein demokratisches Problem.
2. Die Medien – Die Medien sind in einer demokratischen Gesellschaft unverzichtbar für die Meinungsbildung. Die Bürger müssen als Souverän eine wahre Tatsachengrundlage haben, auf der sie ihre politischen Entscheidungen treffen können. Gilbert Chesterton, in Deutschland als Schöpfer der weltbekannten Romanfigur Pater Brown bekannt, war in seinem Heimatland Grossbritannien einer der bekanntesten Journalisten des beginnenden 20. Jahrhunderts. Von ihm stammt der Satz: «Schlimmer als die Zensur der Presse ist die Zensur durch die Presse.» Wir haben in Deutschland ein Medienproblem, eine Vertrauenskrise bezüglich Medien. Viele Menschen haben den Eindruck, dass bestimmte Tatsachen von deutschen Medien nicht oder in manipulativer Weise verbreitet werden. Nach Professor Mathias Kepplinger, einem der bekanntesten deutschen Kommunikationsforscher, liegen die Parteipräferenzen deutscher Journalisten zu 36 Prozent bei den Grünen und zu 25 Prozent bei der SPD, aber nur zu 11 Prozent bei CDU/CSU und lediglich zu 6 Prozent bei der FDP. 23 Prozent entfallen auf «Sonstige» oder «ohne Parteineigung». Deutsche Journalisten fühlen sich weit überwiegend linken Parteien nah, während die Verteilung unter den Bürgern anders aussieht. Für private Medien sehe ich dies persönlich nicht als das grösste Problem an. Niemand ist gezwungen, das Neue Deutschland oder die Süddeutsche Zeitung zu kaufen. Ganz anders ist es beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Er ist zur ausgewogenen und wahrhaftigen Berichterstattung verpflichtet, ist aber in Realität heute weit entfernt von Meinungspluralismus und einer breiten, auf Tatsachen beruhenden Informationsvermittlung.
3. Meinungsmanipulation – Vielen Menschen ist erst im Zusammenhang mit dem sogenannten «Framing Manual» der ARD der Ausdruck «Framing» bekannt geworden. Framing bedeutet die Einbettung von Ereignissen und Themen in Deutungsraster, in eine Art Rahmen. Durch die Wahl bestimmter Worte und Zusammenhänge will man beim Adressaten bestimmte Bilder erzeugen. Durch Ausdrücke wie etwa «medienkapitalistische Heuschrecke» für private Fernsehsender im Unterschied zur ARD, die sich als «verlängerter Arm des Bürgers» bezeichnet, sollen moralisch unterlegte Bilder bei Adressaten geschaffen werden. Dieses Framing ist heute in Politik und Medien gang und gäbe.
4. Politischer Idealismus – Nach meinem Eindruck nimmt die Politik in einigen wichtigen Themenfeldern die Realität nicht mehr als Realität wahr, sondern lässt sich von Wunschvorstellungen leiten. Es entspricht religiöser Spiritualität, zu glauben, dass Deutschland als grosser Industriestandort Europas nahezu zeitgleich auf Stromerzeugung aus Atomkraft und Kohle verzichten und den Energiebedarf nur durch erneuerbare Energien decken könne. Dies ist bislang noch keinem anderen Industriestaat gelungen. Wenn Politiker nicht mehr fähig sind, Probleme als solche zu identifizieren, werden sie auch nicht in der Lage sein, diese Probleme zu lösen. Sie sind damit Teil des Problems.
5. Die Moralisierung des Politischen – Wir erleben derzeit eine Moralisierung des Politischen. Jeder Mensch hat seine eigene, persönliche Moral. Diese hängt von seinem familiären, religiösen oder gesellschaftlichen Hintergrund ab. Als Jurist hat man gelernt, dass das Recht das moralische Minimum ist, auf das sich die Gesellschaft mit ihren unterschiedlichen individuellen Moralen verständigt hat. Man hat sich darauf verständigt, dem anderen nicht seine Moral aufzuzwingen, sondern ein Recht zu akzeptieren, das mitunter sogar der eigenen Moral widerspricht. Heute jedoch ist die Politik durchtränkt von Moral. Politische Vorgänge werden nach moralischen Kategorien gewertet: nach Menschlichkeit, Humanität, Zeichen setzen gegen Hass, gegen das Böse und so weiter. Die Gesellschaft muss wieder zurückfinden zur Herrschaft des Politischen und des Rechts, und die Moral in den Bereich des Privaten zurückverweisen, wo sie hingehört.
6. Der Rechtsstaat – Wenn gesagt wird, die sozialistische DDR sei ein Unrechtsstaat gewesen, dann ist das nur teilweise richtig. Sicherlich, für die Zwecke des Sozialismus wurden Menschenrechte missachtet, Menschen wurden weggeschlossen, misshandelt und getötet. Allerdings verstand sich die DDR auch als Rechtsstaat; nur hatte sie ein «alternatives Verständnis» davon. Im Westen versteht man unter Rechtsstaat die Herrschaft des Rechts. Das bedeutet, dass politische Auffassungen, religiöse Überzeugungen oder moralische Vorstellungen nicht über dem Gesetz stehen, sondern sich nach dem Gesetz auszurichten haben. In der DDR bedeutete Rechtsstaat die Herrschaft nicht des, sondern durch das Recht. Das Gesetz diente der Durchsetzung des Sozialismus. Ich habe die Sorge, dass wir auf dem Wege sind, die Herrschaft des Rechts durch eine Herrschaft durch das Recht zu ersetzen, bei dem das Recht so angewandt wird, wie es der moralischen oder politischen Vorstellung der Herrschenden entspricht.
7. Ausgrenzung der Andersdenkenden – Rigorosität und Aggressivität des politischen Mainstreams gegenüber Andersdenkenden nehmen meiner Ansicht nach zu. Der politisch Andersdenkende wird nicht mehr als der politische Gegner angesehen, mit dem man eine politische Diskussion führt, den man als Menschen und Individuum akzeptiert, sondern er wird wie ein Feind behandelt, dem man das Gespräch verweigert, zu dem kein Kontakt bestehen darf, der ausgegrenzt, stigmatisiert, isoliert und diskreditiert werden darf. Nur in einem totalitären Staat ist nur eine einzige Meinung richtig («Die Partei, die Partei, die hat immer Recht!»), und alle anderen Meinungen sind falsch.
8. Bildungseinrichtungen – Ein alter Juraprofessor an der Freien Universität Berlin hatte mir schon vor Jahren gesagt, die deutschen Professoren hätten sich seit je mehr durch ihre intellektuelle Brillanz als durch ihre Zivilcourage ausgezeichnet. Das galt im Kaiserreich, das galt während der beiden deutschen Diktaturen – und wohl heute noch. Ich finde es erschreckend und beschämend, dass die Hochschullehrerschaft es zulässt, dass Kollegen mit Auffassungen ausserhalb des linken politischen Mainstreams von linksextremistischen Gruppen mundtot gemacht werden und die Universitätsleitungen ihre Hände in Unschuld waschen, während die Betroffenen einem linken Mob alleine gegenüberstehen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wollten wir im Westen ein Schulwesen, das ideologiefrei ist. In den Gesprächen mit Bürgern höre ich immer wieder die begründete Sorge, dass teilweise in Schulen Ideologie vermittelt wird, ob dies nun die Klima- oder die Flüchtlingspolitik betrifft.
9. Die Wirtschaft – Die deutsche Wirtschaft ist in einer schwierigen Situation. Sie fühlt sich in Teilen im Stich gelassen, in Teilen wie der Automobilindustrie steht sie mit dem Rücken zur Wand. Eine grundsätzliche Modernisierung unserer Ökonomie mit Blick auf neue Technologien hat nicht stattgefunden. Deutschlands Industriekraft beruhte bislang auf Innovationen des 19. und 20. Jahrhunderts. Ich befürchte, die grossartigen Zeiten unserer Industrie könnten bald vorbei sein, weil die profitablen modernen Industrien nicht in Deutschland sind.
10. Asyl und Sicherheit – Zur Asylpolitik nur ein paar kurze Gedanken: Sorgen bereitet vielen Menschen die Angst davor, nicht mehr Herr im eigenen Haus zu sein. Dass seit 2012 über zwei Millionen Asylsuchende, vielfach aus islamischen Staaten, nach Deutschland kamen, stellt erhebliche finanzielle und integrationspolitische Herausforderungen dar. Es ist eine Asylpolitik, die Deutschland in Europa weitgehend isoliert und die zur Spaltung Europas beigetragen hat. Kriminalität und Terrorismus rufen Angst hervor. Allein bei den Tötungsdelikten sind nach der aktuellen Polizeilichen Kriminalstatistik 43 Prozent der Tatverdächtigen Ausländer. Es geht nicht darum, die jeweilige Staatsangehörigkeit an den Pranger zu stellen, sondern darum, die Frage zu stellen, warum diese Straftaten nicht durch ausländerpolitische Massnahmen verhindert wurden. Die Politik weicht der Beantwortung aus.
Nach meinem Eindruck konnten all diese Fehlentwicklungen vor dreissig Jahren und selbst vor zehn Jahren so noch nicht festgestellt werden. Erstaunlich ist für mich, wie unterschiedlich diese Entwicklung in Deutschland von den Menschen wahrgenommen wird. Auf der einen Seite sind diejenigen, die sich zutiefst besorgt fragen, wo wir mit unserer Demokratie angelangt sind und wo das enden soll. Auf der anderen Seite gibt es Leute, die fest an die Richtigkeit dieser Entwicklung glauben, teilweise mit einem Eifer, der sonst religiösen Fanatikern eigen ist. Und dann gibt es die grosse Zahl der Menschen, denen die jetzige Lage schlicht nicht geheuer ist, die aber noch Vertrauen haben, dass die gewählten Politiker das Richtige machen. Deutschland ist heute zutiefst gespalten.
Dreissig Jahre nach dem Mauerfall gibt es wieder Leute, die vom Sozialismus träumen, Enteignungen für richtig halten und die DDR verklären. 1990 und in den Jahren danach wurde oft der Ausdruck «Wendehälse» verwendet. Damit bezeichnete man Personen, die zum SED-Establishment gehörten, es sich in der DDR-Diktatur gutgehen liessen und die nach dem Mauerfall vorgeblich zu Demokraten wurden und weiter Karriere machten. Der Begriff «Wendehals» ist pikant, denn dieser «Vogel Specht» hat folgende Besonderheiten:
1. Er ist parasitär, weil er keine eigenen Brutplätze anlegt, sondern andere nutzt.
2. Er dreht den Kopf nur bei Gefahr; wenn dies vorbei ist, dreht er ihn wieder zurück.
Viele Wendehälse scheinen den Kopf wieder in Richtung Sozialismus zurückzudrehen und sich sehr wohl zu fühlen mit der jetzigen Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland. Dreissig Jahre nach dem Mauerfall ist die alte SED, die sich dreimal umbenannt hat, stärkste Kraft in Thüringen und in mehreren Ländern in den Landesregierungen vertreten. Und sie wird in einer unvorstellbaren Art und Weise in der Öffentlichkeit verharmlost. Die SED, die sich heute Die Linke nennt, steht in einer erstaunlichen Kontinuität zur Ideologie und zum Personal der SED-Diktatur. Wir müssen mutiger werden, und wir müssen die Bürger mobilisieren. Wir brauchen wieder mehr Rechtsstaatlichkeit, mehr Demokratie und mehr Freiheit im Sinne des
Hans-Georg Maassen war bis November 2018 Präsident des deutschen Bundesamts für Verfassungsschutz.