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Mrz 24

800 Mädchen in München droht Genitalverstümmelung

800 Mädchen in München droht Genitalverstümmelung

In München sind rund 800 Mädchen zwischen vier und acht Jahren von Genitalverstümmelung bedroht. Frauenärzte und Gesundheitsreferat sind alarmiert – und versuchen, aufzuklären.

Sie sagen: „Ich bin die Reine“ oder „die Pharaonische Tradition wurde an mir ausgeführt“. Damit umschreiben betroffene Frauen ein fürchterliches Thema, eine gravierende Menschenrechtsverletzung, die gegen nationales und internationales Recht verstößt: die weibliche Genitalverstümmelung. Global wird sie FGM abgekürzt, das für „Female Genital Mutilation“ steht.

„Offiziell sind in München über 10.000 Frauen gemeldet, die aus Ländern mit der grausamen Tradition stammen, wie Somalia, Ägypten oder Eritrea“, sagt Nicole Schmidt vom Referat für Gesundheit und Umwelt der Stadt – Flüchtlingsfrauen noch nicht mitgezählt.

Die Städtegruppe München von „Terre des Femmes“ geht davon aus, dass weit über 3.000 beschnittene Frauen in München leben. In den Familien gibt es Töchter. Was passiert mit ihnen, wenn sie zwischen vier und acht Jahre alt sind? „Schätzungsweise 800 Mädchen in München sind von einer Beschneidung bedroht. Das macht uns große Sorgen“, sagt Juliane von Krause von der Menschenrechtsorganisation.

Das Thema FGM ist so brisant und aktuell, dass der Migrationbeirat gestern eine Sondervollversammlung zu dem Thema einberufen hat. Aber auch für das Gesundheitsreferat (RGU) und die Frauenklinik in der Maistraße ist Genitalverstümmelung ein Thema. „Wir vom RGU wollen unseren Beitrag dazu leisten, dass bedrohte und betroffene Mädchen und Frauen bestmöglich geschützt und professionell versorgt sind“, betonte die Münchner Gesundheitsreferentin Stephanie Jacobs (parteilos) jüngst auf einer Fachtagung, die von Referat und Klinik organisiert worden war.

Vor allem die Schwangerenberatung in München macht es möglich, bei Frauen aus dem Sudan oder irakischen Kurdinnen kultursensibel und über Umwege nachzufragen, ob sie Unterleibsschmerzen hätten. Beschnittene Schwangere und Mütter werden klipp und klar darüber aufgeklärt, dass FGM in Deutschland strafbar ist. Denn: Münchner Sozialberater und Mediziner wollen zumindest die Töchter dieser Frauen vor dem unsäglichen Trauma bewahren.

Münchner Ärztin: „Fast jeden Tag kommt eine beschnittene Frau in meine Praxis“

Frauenärztin Dr. Eiman Tahir (50) aus dem Sudan hat in Deutschland Medizin studiert. Ihre gynäkologische Praxis liegt in der Sonnenstraße, direkt am Stachus. Für Entbindungen nutzt sie Belegbetten in der Dr. Geisenhofer Frauenklinik am Englischen Garten. Sie sagt: „Ich spreche auch arabisch. Frauen kommen ganz normal zur Krebsvorsorge zu mir. Aber es vergeht inzwischen kaum ein Tag, ohne dass eine beschnittene Frau den Weg in meine Praxis findet.“

Diese Patientinnen kämen mit verschiedensten Beschwerden, wie Brennen beim Wasserlassen, entsetzlichen chronischen Infektionen oder Schmerzen während der Periode und beim Geschlechtsverkehr.

Die über 5.000 Jahre alte Beschneidungs-Tradition ist heute noch stark: 90 Prozent der Ägypterinnen sind beschnitten, in Somalia sind es nahezu 100 Prozent aller Frauen.

In diesen afrikanischen Ländern, auch in Eritrea, Sudan, in Indonesien und bei irakischen Kurdinnen wird, je nach Region, auch die extremste Verstümmelungsform praktiziert: Die Pharaonische Beschneidung, die die FGM-Aktivistin Fadumo Korn als Siebenjährige in Somalia erleiden musste.

Frauenärztin Dr. Tahir erklärt: „Wenn diese Frauen schwanger sind, kann ich sie nicht korrekt vaginal untersuchen. Ich muss sie durch eine kleine OP öffnen.“

Wenn Frauen das nicht möchten, kann es auch Komplikationen bei der Geburt geben. In der Austreibungsphase setzen Gynäkologen dann oft einen Schnitt, damit das Kind vorrutschen kann. Manchmal ist das aber nicht notwendig, erklärt Lisa-Maria Wallwiener (33), die als Assistenzärztin in der Klinik in der Maistraße schon viele Geburten betreut hat: „Fast immer geht die Narbe auf, was nicht problematisch sein muss, weil das Gewebe wenig durchblutet ist. Ich war bei zehn Entbindungen von beschnittenen Frauen dabei. Sie bekommen eine gute Schmerzerleichterung und haben, besonders wenn sie vorher fast verschlossen waren, nach der Geburt eventuell eine verbesserte Lebensqualität.“

Dem Wunsch einiger Frauen nach der Geburt wieder „zugenäht“ zu werden, damit ihr Mann sie wieder „akzeptabel“ findet, entsprechen Ärzte in Deutschland niemals.

Das archaische Ritual soll die Treue der Frau garantieren

Warum das Beschneidungs-Ritual – mit der Rasierklinge unter einem Baum oder hygienisch-chirurgisch in ägyptischen Krankenhäusern an der Tagesordnung – heute überhaupt noch stattfindet, erklärt Dr. Ralph Kästner, Oberarzt in der Geburtshilfe der Maistraße: „Das bleibt ein patriarchalischer Impuls zur Kontrolle der Sexualität der Frau. Die Treue zum Ehemann soll dadurch garantiert werden.“

Dr. Christoph Zerm aus Herdecke ist FGM-Experte und hat auch in München schon Kollegen für das Thema sensibilisiert. Seit 20 Jahren bietet der Frauenarzt eine Sprechstunde für genitalverstümmelte Frauen an: „Einer Frau die Klitoris abzuschneiden, würde für den Mann den Verlust des Penis bedeuten.“

Die Frauen bekämen oft keine Narkose. Der Schmerz dabei sei unsäglich, geradezu vernichtend. „Die kleinen Mädchen gehen durch die Hölle und leiden ihr Leben lang im Stillen, weil es tabu ist, auch mit der Schwester oder der besten Freundin über Sexuelles zu reden. Dadurch sind sie doppelt traumatisiert,“ konstatiert der Mediziner.

In 29 Ländern wird Beschneidung praktiziert. Beschnittene Frauen sind Opfer sozialer Zwänge und schädlicher traditioneller Bräuche. Nicht zuletzt ist FGM ein Teil des großen Problems: Gewalt gegen Frauen. In München bietet die städtische Beratungsstelle IMMA in der Goethestraße Migrantinnen kostenlose Beratung. Türöffnerin für die zunächst unangenehm-intimen Gespräche ist Fadumo Korn, die dann dolmetscht.

Ein aktueller Fall: Vor ihrer „Zweitbeschneidung“ sind zwei ältere Mädchen aus Westafrika nach München geflüchtet. Die FGM ist hier eine Vorbereitung auf die Hochzeit.

Moderne Afrikanerinnen haben begonnen , sich vehement gegen das frauenverachtende Ritual zu wehren. Die Sozialberaterinnen berichten: „Das Beschneidung-Verbot in Deutschland finden gerade junge Flüchtlingsfrauen aus FGM-Zonen sehr erleichternd und gut.“

Quelle: welt

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