Der IS hat zahlreiche Minderjährige indoktriniert. Auch Deutsche haben Nachwuchs im Terrorkalifat aufgezogen, der in die Bundesrepublik reisen darf. Nicht nur für die Sicherheitsbehörden bedeutet das eine große Herausforderung.
Der Junge ist noch klein, er kann die Pistole kaum halten, die ihm der Terrorist in die Hand drückt. Sein Opfer, ein angeblicher Spion, kniet gefesselt am Boden. Die Kamera zoomt auf das angsterfüllte Gesicht. Dann schießt der Junge dem Mann eine Kugel in den Kopf. Im Hintergrund ist Kriegsgebrüll zu hören. Ein Kind, noch keine zehn Jahre alt, wird zum Mörder.
Die Szene stammt aus einem Propagandavideo der Terrormiliz Islamischer Staat (IS). Es gibt zahlreiche solcher grausamen Aufnahmen. Sie belegen, dass die Dschihadisten selbst Kleinkinder indoktrinieren und für ihren menschenverachtenden Terror missbrauchen.
Das IS-Kalifat in Syrien und dem Irak gilt inzwischen als weitestgehend zerstört, sein Nachwuchs aber könnte sich als sein gefährliches Erbe entpuppen. Tausende Jungen und Mädchen wurden wohl in Koranschulen radikalisiert und in Terrorcamps gedrillt. Kleinkinder wiederum werden von Beginn an mit extremistischem Gedankengut groß. Die hiesigen Sicherheitsbehörden machen sich daher Sorgen: Eines Tages könnten die Kinder der Terrorkämpfer in die Bundesrepublik kommen. Der Verfassungsschutz warnt vor diesem Hintergrund bereits vor einer neuen Dschihadisten-Generation, um die man sich so schnell wie möglich kümmern müsse.
Deutsche Sicherheitsbehörden schätzen, dass mehr als 100 Dschihadisten-Kinder aus der Kriegsregion nach Deutschland zurückkehren könnten. Es ist unklar, wie radikalisiert diese sein werden. Das geht aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Grünen-Bundestagsfraktion hervor, die der WELT vorliegt.
Kinder, die wie beschrieben selbst zur Waffe greifen, wären sicherlich das extremste Beispiel. Zumindest aber muss man davon ausgehen, dass sie eher als andere gefährdet sind, sich zu radikalisieren. „Wie viele rückkehrende Kinder und Jugendliche von Angehörigen des IS werden von den deutschen Sicherheitsbehörden erwartet?“, fragten die Grünen deshalb die Regierung. Emily Haber, Staatssekretärin im Bundesinnenministerium, antwortete darauf: „Die Bundesregierung verfügt derzeit über Informationen, die eine niedrige dreistellige Anzahl von Minderjährigen erwarten lassen.“ Der „Großteil“ davon dürfte im „Baby- beziehungsweise Kleinkindalter“ sein.
Rund 960 Islamisten aus Deutschland sollen in den vergangenen Jahren in die Kriegsgebiete ausgereist sein. Zuletzt war die Zahl als Folge der militärischen Niederlagen des IS deutlich zurückgegangen. 2014 waren es noch rund 310, im Jahr 2017 bis Ende November nur noch etwa 70. Manche haben ihre Kinder mitgenommen, einige Frauen waren zum Zeitpunkt der Ausreise schwanger, andere wiederum haben erst vor Ort Familien gegründet. Von etwa einem Drittel der Ausgereisten weiß die Bundesregierung, dass sie wieder zurück in Deutschland sind. Zu rund 150 Personen liegen Hinweise vor, dass sie vor Ort ums Leben gekommen sind.
Reisedaten von unter 14-Jährigen werden nicht gespeichert
Noch ungenauer ist der Überblick bei den Kindern der Terroristen, die sich aus Deutschland auf den Weg gemacht haben. Die Daten von Kindern, die jünger als 14 Jahre alt sind, dürfen die Sicherheitsbehörden nicht speichern. Sie tauchen also in keiner Statistik zu den Ausreisen auf. Die Zahl der vor Ort geborenen Kinder ist eher geschätzt, da es kaum gesicherte Erkenntnisse gibt. Auffällig ist jedoch: Nahezu jede zurückgekehrte Islamistin war entweder schwanger oder hatte mindestens ein Kind.
Die Grünen-Innenexpertin Irene Mihalic findet, dass die Bundesregierung nicht genug unternimmt, um die Lage ausreichend einschätzen zu können: „Die Bundesregierung rechnet mit mehr als 100 minderjährigen Angehörigen von IS-Fahrern aus Deutschland in den Kriegsgebieten, beruft sich dabei aber nur auf vage Informationen, ohne sich selber eine Faktenbasis zu schaffen“, sagte Mihalic der WELT. Dabei brauchte man „dringend fundierte Erkenntnisse zu den Minderjährigen, damit die Reintegration in unsere Gesellschaft gelingen kann“. Mihalics Hintergedanke: Es muss alles getan werden, damit die Kinder später nicht den Weg der Eltern einschlagen.
Von besonderer Relevanz sind detaillierte Informationen auch mit Blick auf eine vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen im Dezember einstimmig verabschiedete neuen Antiterrorresolution. Die Öffentlichkeit hat davon bislang wenig mitbekommen. Demnach verpflichten sich die Mitgliedstaaten zum einen, die Gefahr durch Dschihad-Rückkehrer verstärkt anzugehen. Außerdem will man Frauen als Terrorhelferinnen strafrechtlich verfolgen und Kinder deradikalisieren und resozialisieren.