Adieu USA, adieu Britannien – Europa will es nun alleine richten? Wenn es sich da nicht übernimmt. Gerade Deutschland sollte die strategischen Realitäten bedenken, die über den Tag hinaus gelten.
So einen kräftigen Schluck aus dem Bierseidel der Polemik – welcher Politiker möchte dem nicht gerade in Wahlkämpfen nachgeben, zur Erhöhung der eigenen Gewinnchancen? Im März 2002 hielt Gerhard Schröder auf dem Marktplatz von Goslar eine Rede an die Adresse des damaligen US-Präsidenten George W. Bush: Deutschland werde sich nicht am Irakkrieg beteiligen.
Das wiederholte er im Sommer des Wahljahres mit kräftigeren Tönen, die nicht nur eine ehrliche Meinungsverschiedenheit signalisierten, die sich im Nachhinein als prophetische Intuition erweisen sollte; sie war auch von einer unnötigen Portion moralisierender Hybris gekennzeichnet. Die „arrogante Ohnmacht“ reagierte auf die „Arroganz der amerikanischen Macht“, wie es der Politikwissenschaftler Christian Hacke damals formulierte.
Die deutsche Attitüde gegenüber den USA, und heute auch gegenüber den ach so weltverlorenen Briten mit ihrem aberwitzigen Brexit, wie man in Berlin wohl meinen mag, hat etwas von oberlehrerhafter Besserwisserei an sich. Wir begnügen uns nicht mit der nüchternen Feststellung von Differenzen, es spricht immer so etwas wie der Schiedsrichter, der über die Regeln des weltpolitischen Spiels befindet.
Die USA sind nicht nur Trump
Das europäische Interesse an Amerika, an guten transatlantischen Beziehungen ist riesig. Dass wir uns auf die USA „nicht mehr völlig verlassen können“, wie Angela Merkel es in München ausdrückte, ist eine linguistische Vermengung: Sie spricht vom Land, meint aber den Präsidenten.
Auf Donald Trump glauben wir uns zurzeit mit Recht nicht völlig verlassen zu können. Die USA aber bilden in Wahrheit eine alle Veränderungen seines politischen Personals transzendierende Größe, die aus der Zukunft der europäischen Sicherheit nicht wegzudenken ist. Das mehr als bisher zu hören täte deutschem Weltverständnis gut.
Ausfall Amerikas?
Stattdessen diktiert wieder einmal der Wahlkampf die politische Rhetorik. Martin Schulz ist für Frau Merkel, was Nigel Farage einst für die britischen Konservativen war: Man muss ihn übertrumpfen, um ihm die Argumente abzugraben. Wie die Tories sich entsprechend zu verstärkter Europa-Skepsis wandelten, so intoniert die Kanzlerin jetzt Amerikakritik als höchst populäres Narrativ.
Ihr Sprecher erst musste herbei, um erklärend daran zu erinnern, dass seine Chefin eigentlich „eine glühende Transatlantikerin“ sei, eingeschworen auf die gemeinsamen Werte. Doch grüß mich nicht unter den Linden …
Die SPD, um mitzuhalten, kann nicht anders als nachzuladen, wie Kanzlerkandidat Schulz, der meint, es sei „das Gebot der Stunde“, sich Trump „mit allem, was wir vertreten, in den Weg zu stellen“. Oder der deutsche Außenminister, der in Berlin von einem „Ausfall der Vereinigten Staaten als wichtiger Nation“ sprach. Er muss aufpassen, nicht den Ausfall Sigmar Gabriels als wichtiger Figur zu erleben.
Jimmy Carter war auch unerfahren
Mit Lust wird das Kind mit dem Bade ausgeschüttet, ohne abzuwarten, ob über Donald Trump, diesem „work in progress“, nicht doch noch das Licht der Erkenntnis aufscheint, etwa beim Klimawandel.
Er hat sich Zeit mit seiner Entscheidung genommen, musste sie sich nehmen, denn er kam mit den kruden Reflexen seines zurückliegenden Wahlkampfes nach Taormina, auf deren Grundlage kein sicheres Urteil zu erwarten war. Dass er sich so undurchdacht mit der internationalen Agenda konfrontiert sieht, er, ein „America firster“, macht überhaupt sein Handicap aus.
Auch Jimmy Carter, der Erdnussfarmer aus Georgia, war ein weltpolitisches Greenhorn, als er sich anschickte, US-Präsident zu werden. Aber er gab sich bereitwillig an die Hand des jüngst verstorbenen Zbigniew Brzezinski, der ihn vor der Wahl in allen damals wichtigen Gremien der internationalen Politikberatung – auch in Europa – einführte, etwa bei der seinerzeit führenden Trilateralen Kommission.
Dass er den Nato-Mitgliedern, die ihre Zusage zur Aufstockung des Verteidigungsetats bisher nicht eingehalten haben, in Brüssel die Leviten las, ist nicht sein Manko, sondern das der Nato.
Wie wär’s, wenn Merkels wichtigster Satz, „wir Europäer müssen unser Schicksal wirklich in die Hand nehmen“, als Erstes zur Folge hätte, Versprechen einzuhalten, die man feierlich unterschrieben hat? Deklarationen waren in Europa immer wohlfeil, aber eine Rede ist noch kein Programm, wie Norbert Röttgen richtig bemerkt hat, und ein bayrisches Bierzelt macht noch keine Kehrtwende.
Es wäre auch nicht zu wünschen. Der kritische Dialog mit Amerika ist wichtig, damit man in Washington nicht vergisst, dass die Welt mehr vom Staatsoberhaupt der USA erwartet als die Diskontinuitäten des jetzigen Amtsinhabers.
Bekenntnis zu Britannien
Aber dem Antiamerikanismus nach dem Munde zu reden, ist kontraproduktiv. Die EU selber steht ja auf dem Prüfstand. Die Hoffnung auf eine neue Führungskultur zwischen Berlin und Paris zum Beispiel ist erst nur dies – eine Hoffnung, die schon am Widerstand der französischen Gesellschaft gegen durchgreifende Reformen im Innern scheitern kann.
Auch Merkels wiederholte Beteuerung, mit Großbritannien in guter Partnerschaft leben zu wollen, braucht gerade in diesem historischen Moment, den Verhandlungen zum Brexit, ein deutliches Bekenntnis zu der Rolle, welche die Insel weiterhin in der Verteidigungsarchitektur des Kontinents spielt und spielen wird.
Kontinuität, das magische Wort. Über dem Nichtbegreifen des britischen Wunsches zum Exit aus der EU die Bedeutung fortgesetzter Sicherheitsbeziehungen mit der Insel zu übersehen wäre nicht in unserem nationalen Interesse.
Wie überhaupt stünde es um eine EU, die allein bei sich selber, ohne die angelsächsische und transatlantische Koordinate, ihr Heil suchen würde? Jede Zeit hat ihre Verwerfungen und Verständnisschwierigkeiten. Aber es ist die Aufgabe von politischer Führung, den Blick nicht zu verlieren für die strategischen Realitäten, die über den Tag hinaus gültig sind.