Kaum einer kennt die arabischen Clans in Berlin so gut wie Ralph Ghadban. In den achtziger Jahren hat er viele von ihnen als Sozialarbeiter betreut. Jetzt hat er ein Buch über sie geschrieben. Darin wirft er der Politik vor, sie habe die Herrschaft der Clans erst ermöglicht
Ralph Ghadbahn, geboren 1949 im Libanon, kam 1972 mit einem Doktoranden-Stipendium nach Deutschland. Von 1977 bis 1992 war er in der Sozialarbeit aktiv, unter anderem als Leiter der Beratungsstelle für Araber beim Diakonischen Werk. Seitdem hat er sich einen Namen als Migrationsforscher mit dem Schwerpunkt Islam gemacht. Zu dem Thema hat er mehrere Bücher veröffentlicht. Sein neuestes Buch erscheint jetzt im Ullstein-Verlag: „Arabische Clans. Die unterschätzte Gefahr.“ Am 9. Oktober spricht er darüber als Experte bei einer Podiumsdiskussion der SPD in der Mensa der Gemeinschaftsschule Campus Efeuweg in Neukölln, Beginn: 19 Uhr.
Herr Ghadban, nach dem Mord an Nidal R. haben Maler unter Polizeischutz ein Graffiti am Tatort entfernt, das den bekannten Kriminellen verherrlichte. Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie so ein Bild sehen?
Ich finde das richtig. Jeden Versuch, das Bild des Verstorbenen zu idealisieren und zu mystifizieren, muss man bekämpfen. Das war ein Verbrecher, kein Held, ein so genannter Intensivstraftäter.
Aber was sagt es über den Rechtsstaat aus, dass die Polizei Maler bei der Entfernung von verbotenen Graffiti bewachen muss?
Es ist ein Alarmsignal. Aber natürlich müssen die Maler beschützt werden, wenn sie im Gebiet des Clans die Spuren der Selbstverherrlichung beseitigen.
Das heißt, die Clans haben die Claims abgesteckt, in denen sie regieren?
Natürlich, und das schon seit Jahrzehnten. Die Opfer der Clans wissen das längst. Das ist nichts Neues. Aber die Medien zeigen erst Interesse, wenn Blut fließt.
Die Polizei sagt, dass Nidal R. an einem belebten Ort erschossen wurde, zeige, dass die Gewalt der Clans eine neue Dimension erreicht hat. Welche Botschaft sendet dieser Mord aus?
Das war eine Abrechnung. Nidal R. ist hingerichtet worden. Die Schützen waren keine Profis. Sonst hätten sie nicht acht Schüsse gebraucht, um ihn zu töten – auf die Gefahr hin, andere zu treffen. Das öffentliche Auftreten ist eine Machtdemonstration und zeigt ihre Verachtung des Staates.
Worum geht es in dieser Abrechnung?
Wahrscheinlich um Schutzgeld. Es hat schon vorher eine Auseinandersetzung gegeben. Man rätselt noch, mit wem. Die Medien haben berichtet, es sei ein Konflikt zwischen den arabischen Clans. Das glaube ich nicht.
Warum nicht?
Die Clans vermeiden Morde, wenn es möglich ist. Wenn ein Mord passiert, wird der Konflikt um die Geschäfte durch die Blutrache zusätzlich belastet. Ich nehme an, dass es in diesem Fall um eine Auseinandersetzung mit anderen ethnischen Clans geht, wie etwa den Türken.
Wie kommen Sie darauf?
Außer den arabischen Clans sind die türkischen Clans am stärksten in Berlin.
Aber nicht jede Großfamilie ist ein Clan.
Das stimmt. Beim Clan ist der Zusammenhalt enger. Und ein Clan ist auch größer. Wir reden hier von mehreren tausend Mitgliedern
Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Flüchtlingswelle 2015 und diesen Clans?
Ja, viele der Flüchtlinge wurden von diesen Clans angeworben. Und da fängt das Problem an. Solange die Flüchtlinge alleine kommen, erleben wir nur ethnische Konflikte. Afghanen gegen Araber, Araber gegen Türken, Iraker gegen Syrer. Erst bei weiterem Zuzug von Verwandten können sie einen Clan bilden. Wenn sie sich als Clan aufstellen, dann werden die Konflikte zwischen den Clans ausgetragen. Die Entwicklung schreitet voran.
Das heißt, die Bundesregierung hat richtig gehandelt, als sie den Familiennachzug erst ausgesetzt und jetzt auf 1000 Menschen im Monat reduziert hat?
Ja, aber diesen Rahmen wird die Bundesregierung nicht einhalten können. Allein in Beirut liegen der deutschen Botschaft 30.000 Anträge auf Familienzusammenführung vor.
Aber nicht jede Großfamilie ist kriminell.
Seit den neunziger Jahren produzieren diese Clans aber die höchste Kriminalitätsrate in Deutschland. Statt sich zu integrieren, bauen sie ihre Großfamilien auf. Und die Politik hat darauf nicht reagiert.
In Ihrem Buch beschreiben Sie, wie die ersten Araber in den siebziger Jahren aus dem Libanon nach Deutschland kamen. Was zog die ausgerechnet nach Berlin?
Die Stadt war damals noch geteilt, es gab ein Schlupfloch in der Mauer. Es waren palästinensische Studenten, die dieses Loch zuerst entdeckt haben. Sie waren nach Ostdeutschland gekommen, nachdem sich die PLO mit der DDR verbündet hatte.
Wie kam man denn vom Osten in den Westen?
Ganz einfach. Man kaufte ein Ticket für die Interflug von Beirut nach Berlin-Schönefeld. Das kostete damals nur 300 D-Mark. Am Flughafen hat man für fünf Euro ein Transitvisum gekauft. Der Bus brachte die Libanesen zum Bahnhof Friedrichstraße. Und dort konnten sie einfach über die Grenze in den Westen.
Ganz legal?
Ganz legal. Die Grenze wurde nicht kontrolliert. Berlin stand damals noch unter alliierter Herrschaft.
Und das sprach sich im Libanon herum?
Ja, ich schätze, dass auf diesem Weg bis zum Fall der Mauer 1989 75 Prozent der Araber nach Westdeutschland gekommen sind, nicht nur aus dem Libanon. Heute leben in Berlin circa 140.000 Araber.
Wann hat der Berliner Senat das Loch entdeckt?
Anfang der achtziger Jahre. Aber er konnte es nicht stopfen. Die Bundesregierung hätte die DDR sonst als eigenen Staat anerkannt. Und die DDR hatte auch gar kein Interesse daran, das Loch zu stopfen.
Warum nicht?
Sie hat ja an den Einreisenden verdient. Der Interflug war ja eine staatliche Fluggesellschaft. Und dann mussten die Einreisenden auch noch Geld in DDR-Mark tauschen. Erst 1987 stellte die DDR keine Transitvisa mehr für Einreisende aus, die kein Anschlussvisum hatten.
Und dann riss der Strom ab?
Ja, aber nur kurz. Dann fanden die arabischen Studenten andere Wege, um ihre Landsleute einzuschleusen. Sie haben sie als Gäste eingeladen und pro Kopf zwischen 300 und 500 Mark kassiert. Aber das ging nur bis 1989. Dann fiel die Mauer.
Und dann?
Von 1989 bis 1990 gab es überhaupt keine Grenze. Allein in diesem Jahr sind 20 000 Menschen aus dem Libanon gekommen. Erst am 3. Oktober 1990 hat der Bundesgrenzschutz die Grenze dicht gemacht.
Warum hat der Staat diese Menschen nicht einfach abgeschoben?
Das ging nicht. Als Palästinenser und Mhallami-Kurden waren sie „staatenlos“. Wegen der Genfer Flüchtlingskonvention wurden sie geduldet. Sie hingen dann jahrelang in der Luft. Das war ein humanitäres Problem. Und dann hat man die Altfallregelung für sie getroffen. Das heißt, ihr Aufenthalt wurde legalisiert. Aber da hatten sie sich schon am Rande der Gesellschaft eingerichtet. Man hat sie nicht mehr erreicht. Sie hatten schon erkannt, wie man sich in dieser Gesellschaft bedienen kann. Sie haben die deutsche Gesellschaft als Beutegesellschaft betrachtet.
Die Polizei in Berlin spricht von zwölf arabischen Clans, die das Geschäft der organisierten Kriminalität unter sich aufgeteilt haben. Gemessen an den 140.000 Arabern, von denen Sie sprechen, ist das doch nur ein kleiner Anteil.
Was die Polizei sagt, stimmt nicht. Die operiert immer mit anderen Zahlen. Mal spricht sie von sechs Clans, mal von zwanzig. Die weiß doch gar nicht, wer hier ist.
Wann hat die Polizei die Gefahren erkannt, die von diesen Clans ausgehen?
Vor zwanzig Jahren. Die Politik erlaubt ihr aber nicht, das Problem zu behandeln. In Berlin darf die Polizei bis heute von Clan-Kriminalität zu nicht sprechen. Sie spricht nur von Organisierter Kriminalität.
Aus Ignoranz? Oder weil man sie sich nicht eingestehen will, dass sie die Entwicklung verschlafen hat?
Am Anfang hat man das Problem der Großfamilien nicht wahrgenommen. Man war so überzeugt von der Überlegenheit des westlichen Modells und von seiner Integrationskraft. Man hat nicht erkannt, dass diese Menschen ein anderes Wertesystem hatten und nicht bereit waren, sich zu integrieren. Großfamilien kann man nicht integrieren.
Warum nicht?
Integration ist in westlichen Gesellschaften immer individuell. Man integriert Einzelpersonen, nicht Gruppen. Und diese Menschen definieren sich über Werte wie die Großfamilie, die Ethnie oder die Religion.
In Ihrem Buch schreiben sie, der Staat habe die Verbreitung der Clans durch seine Politik der falsch verstandenen Toleranz sogar noch gefördert.
Das stimmt. Nach dem Fall der Mauer ist in Deutschland der Rassismus explodiert, nicht nur im Osten. Es gab plötzlich überall Angriffe auf Menschen, die ausländisch aussahen. Die Zivilgesellschaft hat darauf reagiert. Damals hat sich die Ideologie von Multikulti auf den Straßen durchgesetzt.
Anerkennung und Respekt für fremde Kulturen ist ja erstmal was Positives.
Das stimmt. Wegen Anerkennung und Respekt der Kulturen hieß der Slogan dann: Integration durch Partizipation. Aber eine Partizipation setzt neben einer gewissen Bildung auch die Bereitschaft zur Integration voraus. Und die kann ich nicht erkennen.
In ihrem Buch schreiben Sie, schon in den achtziger Jahren hätten die Großfamilien stattdessen begonnen, islamische Strukturen in Deutschland zu schaffen.
Ihre erste Organisation war die Islamische Föderation, später kamen andere islamische Organisationen und die DITIB dazu, die Türkisch Islamische Union der Anstalt für Religion, e.V. Die DITIB untersteht dem türkischen Präsidenten. Es ist ein Instrument seiner Regierung. Diese Verbände haben die Grundlagen der Parallelgesellschaft geschaffen.
Sie sind 1972 mit einem Doktoranden-Stipendium nach Deutschland. Welchen Bezug haben Sie zu den arabischen Clans?
Das sind meine Landsleute. Von 1976 bis 1993 war ich Sozialarbeiter, zehn Jahre habe ich die Beratungsstelle für Araber des Diakonischen Werks geleitet. Durch meine Arbeit habe ich sie besser kennengelernt.
Als langjähriger Leiter dieser Stelle haben Sie einen guten Einblick in diese arabischen Clans bekommen. Was waren denn deren Sorgen?
Asyl- und Aufenthaltsfragen, sie waren ja alle Flüchtlinge. Danach kamen Familienkonflikte. Ein Hauptthema waren die Ehen von Minderjährigen – damals schon. Aber erst heute regt man sich darüber auf. Das Diakonische Werk hatte die Vormundschaft für die Kinder minderjähriger Mütter.
Hat Sie der Job nicht frustriert?
Doch, natürlich. Es gab wenig Erfolgserlebnisse.
Und obendrein haben Sie diese Parallelgesellschaft noch unterstützt.
Das war mein Job als Sozialarbeiter. Wenn Leute in Not sind, wird ihnen geholfen. Außerdem gehörte es zu meinem Selbstverständnis als Linker, anderen zu helfen.
Hatten Sie keine Gewissensbisse?
In manchen Fällen schon. Ich habe mich aber dadurch gerettet, dass ich mich strikt an die Gesetze hielt. Ich habe auch darauf geachtet, dass mein Engagement nicht missbraucht wird.
Was war denn das Krasseste, was Sie in der Beratungsstelle erlebt haben?
Alles war krass. Die Wertevorstellungen der Araber kollidierten ständig mit den Werten unserer Gesellschaft. Sie wollten ihre Kultur wiederherstellen und dachten gar nicht an Integration. Es gab natürlich Ausnahmen. Es gab aber auch Klienten, die polygam waren – die mehrere Frauen hatten, sowohl hier als auch in ihrer Heimat. Was sollte ich da machen? Das ging mich nichts an. Ich war Sozialarbeiter, nicht Polizist.
Haben die mit Ihnen auch darüber gesprochen, wie sie ihr Geld verdienen?
Das war mein Job, ihre Probleme mit dem Arbeitsamt zu behandeln. Die Fragen der Schwarzarbeit bekam ich indirekt mit. Die Strafverfahren habe ich auch begleitet. Ab 1982 habe ich die Gruppenarbeit in den Strafvollzugsanstalten in Berlin aufgebaut. Ich war zehn Jahre lang bis 1998 Anstaltsbeirat in Tegel. Ich kenne sie deshalb sehr gut.
Inzwischen hat sich Berlins Innensenator Andreas Geisel (SPD) den Kampf gegen die Clan-Kriminalität auf die Fahnen geschrieben. Gerade lässt er prüfen, wie die Steuerfahndung gegen die Clans vorgehen könnte. Der Bezirk Neukölln lässt gerade prüfen, ob er Kinder arabisch-stämmiger Krimineller in staatliche Obhut nehmen könnte. Hat sich der Wind in der Politik gedreht?
Auf jeden Fall. Die SPD in Neukölln hat mich gerade als Experten zu einer Diskussionsveranstaltung über Clan-Kriminalität eingeladen. Das zeigt mir, dass das Thema endlich auch in der Politik angekommen ist. Jahrelang hat die SPD einen großen Bogen um mich gemacht und meine Warnungen in den Wind geschlagen.
Müssen Sie jetzt mit Racheakten rechnen, wenn Sie in Ihrem Buch vor der Gefahr warnen, die von diesen Clans ausgehen?
Ich nenne ja bewusst keine Namen. Es ist eine wissenschaftliche Arbeit, keine Polizeiarbeit.
Aber Ihre Arbeit gipfelt ja in der Forderung, der Staat müssen diese Clans bekämpfen.
Ich bin ihr Gegner. Sie wissen das. Einer von ihnen hat sich schon bei mir gemeldet.
Was wollte er?
Er hat mich unter dem Vorwand besucht, er wollte mich zur Hochzeit seines Sohnes einladen. Er hat mir die Einladung auch persönlich vorbeigebracht. Er hat gesagt, es gebe Leute, die wollten mit mir reden. Sie finden, dass ich ihren öffentlichen Ruf ruiniere.
Und was haben Sie ihm geantwortet?
Wer ist denn an ihrem schlechten Ruf schuld? Ich? Oder die Polizeistatistik? In ihren Wohnorten gehen mehr als zwanzig Prozent der Organisierten Kriminalität auf das Konto dieser Clans?
Haben Sie gar keine Angst?
Vor der alten Generation nicht. Der habe ich ja geholfen. Die wissen das auch noch. Aber die junge Generation kennt mich nicht. Wer sollte mich vor ihr beschützen? Die Polizei?