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Jan 12

Die Libanesen haben genug von den syrischen Flüchtlingen

Eine syrische Familie wartet in der libanesischen Kleinstadt Arsal in ihrem Auto darauf, in einem Konvoi in ihre Heimat zurückgeschafft zu werden. (Bild: Nabil Mounzer / EPA)

Libanon hat gemessen an der Bevölkerung mehr Syrer aufgenommen als jedes andere Land der Welt. Doch nach fast acht Jahren wächst der Druck auf sie, das Land zu verlassen.

Wenn es regnet, tropft es so stark durch das Dach des Hauses von Ridwan Raad, dass er Wassereimer aufstellen muss. Die Gassen in dem syrischen Flüchtlingscamp, in dem Raad mit seiner Familie lebt, versinken im Schlamm und drohen, die Kanalisation zum Bersten zu bringen. Und das bedeutet Ärger mit den Einheimischen. So wie neulich, als das Abwasser nach heftigem Regen in Bächen vom Camp auf die Hauptstrasse lief. Sofort hätten sich Anwohner versammelt, die Syrer beschimpft und mit Dreck beworfen, sagt Raad. «Wir besorgten eine Baumaschine, die wir aus eigener Tasche bezahlten, und behoben den Schaden.» Danach kehrte wieder Ruhe ein, zumindest oberflächlich. Doch unter der Oberfläche brodelt es gewaltig.

Arsal ist eine Kleinstadt von rund 30 000 Einwohnern hoch in den Bergen im Nordosten Libanons, eine sunnitische Enklave in der mehrheitlich schiitischen Region. Bis zur syrischen Grenze sind es nur wenige Kilometer. Nachdem der Krieg im Nachbarland ausgebrochen war, lebten in der Stadt zeitweise dreimal so viele Flüchtlinge wie Einheimische, auch heute sind es nach Angaben der Behörden immer noch eineinhalb Mal so viele. Die Flüchtlinge leben in kleinen Siedlungen wie der von Raad rund um die Stadt. Anfangs sei alles noch gut gewesen, sagt der 45-Jährige, der vor sechs Jahren aus dem zentralsyrischen Kusair nach Arsal floh. Eine libanesische Familie nahm ihn, seine Frau und die vier Kinder auf.

Unmut unter Einheimischen

Doch dann geriet Arsal zwischen die Fronten im Krieg im Nachbarland. Nachdem Kämpfer des libanesischen Hizbullah in Syrien interveniert hatten, schwappte der Konflikt auf Libanon über. Sunnitische Rebellen setzten sich in der Gegend um Arsal fest und griffen Hizbullah-Stellungen und schiitische Dörfer an. In dem Masse, wie sich der Aufstand im Nachbarland radikalisierte, setzten sich in Arsal Extremisten der Nusra-Front, des syrischen Kaida-Ablegers (heute Teil von Hayat Tahrir al-Sham) und schliesslich des Islamischen Staats (IS) fest. Wie überall, wo sie auftauchten, verübten die IS-Extremisten auch in Libanon Anschläge mit Autobomben und Selbstmordattentätern.

Die Kämpfe forderten aufseiten der libanesischen Armee, des Hizbullah und der Extremisten, aber auch unter der Zivilbevölkerung Dutzende von Toten. Erst im vergangenen Jahr gelang es der Armee, die letzte Extremistenhochburg zurückzuerobern. Mehrere hundert Extremisten wurden zusammen mit ihren Familien nach Syrien ausgeschafft. Checkpoints säumen heute die Zufahrts- und Ausfallstrassen rund um Arsal. Um sie zu passieren, braucht es eine Genehmigung der obersten Sicherheitsbehörde. Hatten viele Sunniten in Arsal mit dem Aufstand ihrer Glaubensbrüder im Nachbarland sympathisiert, änderte sich das schlagartig mit dem Unwesen der Extremisten. Das Mitgefühl für die Flüchtlinge schlug in offene Ablehnung um. Zusätzlich befeuert wird sie sie durch die wirtschaftliche Not in der historisch ohnehin benachteiligten Region.

Wenige hundert Meter von Raads Flüchtlingssiedlung entfernt schimpft Mohammed Izzeddin wie ein Rohrspatz über die Syrer. Unruhestifter, Diebe und Lügner seien sie. Der rundliche 55-Jährige betreibt einen Krämerladen, die Auslage ist spärlich: ein wenig Gemüse, ein paar Dosen, Nudeln, Reis und Süssigkeiten ist alles, was er zu bieten hat. An die Flüchtlinge verkaufe er aber nur noch, wenn sie bar bezahlen könnten. Zu oft habe er am Ende sein Geld nicht bekommen. Und überhaupt: «Seit den Kämpfen mit der Armee traue ich ihnen nicht mehr», sagt er. «Keiner traut ihnen mehr.» Heftig nickt ein Kunde. «Sie haben uns kaputt gemacht», mischt er sich ein. Während der Kämpfe hätten Syrer die Felder niedergebrannt, und sie hätten die Preise versaut. Als Fliesenleger bekomme er kaum noch Aufträge, weil die Flüchtlinge die gleiche Arbeit zum halben Preis machen würden. «Es ist an der Zeit, dass sie gehen», sagt er. «Umso schneller sie wieder weg sind, umso besser», wirft Izzeddin ein. Ähnlich äussern sich viele am Ort. Diese Stimmung können auch Politiker nicht ignorieren, sie machen Druck, dass die Flüchtlinge wieder zurückkehren.

Rührige Bürgermeisterin

In ihrem Büro hält die stellvertretende Bürgermeisterin Rima Kronbi ein Schreiben unter die Nase, in dem sich Quartier- und Ortsvorsteher über die Flüchtlinge beschweren. «Sechzig haben es unterschrieben!», sagt sie und wedelt mit dem Papier. «Wir hatten hier nie ein Drogenproblem, inzwischen haben wir eines. Die Lage ist untragbar geworden.» Vor einem Jahr haben libanesische Sicherheitsvertreter Gespräche mit ihren syrischen Kollegen über die Rückkehr von Flüchtlingen begonnen. Seitdem kann sich, wer will, in Listen eintragen, die dann von beiden Seiten überprüft werden. Theoretisch garantieren die sogenannten Versöhnungsvereinbarungen den Rückkehrern Schutz und den Männern für ein halbes Jahr die Freistellung vom Militärdienst. Im Rahmen solcher Vereinbarungen wurden laut der Bürgermeisterin in den letzten Monaten 3500 Flüchtlinge repatriiert. Darüber hinaus seien rund 20 000 Syrer zurückgekehrt, die einfach ihre Sachen packten und über die Grenze fuhren. Nach Angaben der Generaldirektion für Sicherheit verliessen landesweit gar mehr als 80 000 Flüchtlinge zurück.

Beobachter halten diese Zahlen allerdings für übertrieben, und das Uno-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) kann sie nicht bestätigten. Nach Angaben des UNHCR, das seine Zahlen von der Generaldirektion für Sicherheit erhält, kehrten zwischen Januar und Mitte November lediglich knapp 7000 Personen in offiziell organisierten Konvois nach Syrien zurück. Menschenrechtler kritisieren, dass die Rückkehrer nicht sicher vor Repressalien durch das Regime von Bashar al-Asad sind. Das sorgt auch für Streit innerhalb der libanesischen Regierung. Der Minister für Flüchtlingsfragen, Muin Merhebi, selbst Sunnit und ein scharfer Kritiker des syrischen Regimes, wirft Damaskus Morde und Verhaftungen von Rückkehrern vor. Knapp 20 Flüchtlinge seien nach ihrer Rückkehr ermordet worden, sagte er kürzlich. Libanon müsse die Syrer schützen und ihnen helfen, so lange es im Nachbarland keinen Frieden gebe.

Kronbi, die rührige Bürgermeisterin von Arsal, widerspricht. Sie habe die ersten beiden Konvois begleitet, um sicherzustellen, dass den Flüchtlingen kein Haar gekrümmt wird. Zwar räumt Kronbi ein, dass es später zu Festnahmen kam. Inzwischen habe sie jedoch gute Kontakte im syrischen Sicherheitsapparat. «Wenn etwas passiert, rufe ich sofort an», sagt sie. «Syrien ist sicher, zumindest im Grenzgebiet. Wie es weiter innen im Land aussieht, weiss ich nicht.» Im Sommer eroberten syrische Soldaten und Hizbullah-Kämpfer die letzten Gebiete entlang der gemeinsamen Grenze zwischen Syrien und Libanon. Die Kalamun-Berge östlich von Arsal werden nach Angaben von Kennern der Region vom Hizbullah kontrolliert.

Der Hizbullah braucht einen Erfolg

Selbst wenn die Soldaten und Milizionäre die Rückkehr in Ruhe lassen, erwartet sie in Syrien eine ungewisse Zukunft. Von ihren Häusern sind oft nur noch Trümmer übrig, die Infrastruktur wurde schwer beschädigt. «Von unserem Haus steht nur noch ein Gerippe», sagt Umm Hamid, deren wahren Namen wir nicht schreiben sollen. Trotzdem will sie heim in ihr Dorf in den Kalamun-Bergen. «Es reicht hier», sagt sie. In der Flüchtlingssiedlung am Ortsrand von Arsal ist es eng, wie die anderen Familien muss sich Umm Hamid mit ihrem Mann und den drei Kindern ein Häuschen von gerade einmal rund zwanzig Quadratmetern teilen. Wie viele Frauen hat sie die Siedlung seit Monaten nicht mehr verlassen. «Genug ist genug.» Schon zwei Mal hat sich die Familie in die Rückkehrerlisten eingetragen, doch beide Male lehnte Damaskus ihren Mann ab. Damit ist sie keineswegs die einzige.

«Aus Sicht des syrischen Regimes sind die Flüchtlinge nur eine Belastung», sagt Bente Scheller, Leiterin der Heinrich-Böll-Stiftung in Beirut. «Es will sie überhaupt nicht.» Doch Russland – und auch der Hizbullah – machen Druck. Beide wollen damit Normalität signalisieren. Der Hizbullah hat in dem Krieg Hunderte von Kämpfern verloren, Tausende wurden verletzt. Er müsse beweisen, dass sich der hohe Preis gelohnt habe, sagt Scheller. Doch solange Asad an der Macht sei, werde es in Syrien auch keine Lösung, und damit auch keine Rückkehr von Flüchtlingen im grossen Stil geben. «Wenn man akzeptiert, dass Asad an der Macht bleibt, muss man über die Zukunft der Flüchtlinge diskutieren.» Dazu zähle auch die Aufnahme in Drittländern. «Ich weiss, das ist in Europa unpopulär.»

Was für Europa gilt, gilt für Libanon erst recht. Gemessen an der Bevölkerungszahl hat der Zedernstaat mehr syrische Flüchtlinge aufgenommen als jedes andere Land der Welt. Doch der Druck auf sie wächst. Seit geraumer Zeit stellen die Behörden keine Sicherheitsausweise mehr aus, ohne die sich Flüchtlinge weder im Land bewegen noch Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen haben. Darüber hinaus habe ihre Organisation Verschleppungen, unbegründete Festnahmen und Ausgangssperren dokumentiert, sagt Lama Fakih, stellvertretende Leiterin der Nahostabteilung von Human Rights Watch in Beirut. Aus Angst vor Ausschaffungen würden Flüchtlinge oft auf eine Anzeige solcher Verstösse verzichten. «Flüchtlinge haben uns erzählt, dass sie deswegen zur Rückkehr entschlossen haben.»

Zerstörte Landschaften

Im Oktober durchkämmte die Armee die Hüttensiedlungen rund um Arsal, mehr als 150 Männer wurden festgenommen. 2017 misshandelten Soldaten vier Flüchtlinge so schwer, dass sie starben. Nach den Festnahmen vom Oktober kamen die meisten zwar wieder frei, doch Ende November folgte die nächste Razzia. Diesmal nahmen die Soldaten fast 400 Syrer fest, mehr als drei von ihnen wegen abgelaufener Papiere. Aus dem gleichen Grund stoppten die Soldaten Raad und einige andere Männer jüngst an einem Checkpoint und hinderten sie daran, ins nächste Dorf zu fahren, wo sie für ein paar Tage einen Job ergattert hatten. Der Syrer mit der gegerbten Haut würde seinen Sicherheitsausweis gerne verlängern. Doch dazu braucht er neuerdings einen einheimischen Bürgen, und den findet er nicht. Trotzdem will er auf keinen Fall zurück nach Kusair, wo er einst ein Haus besass und mit einem Busunternehmen gut verdiente.

«Schau dir das an. So sieht Kusair aus.» Auf seinem Handy zeigt er uns ein Video: Bilder einer Geisterstadt aus ausgebombten Häusern, Betontrümmern und kaputten Strassen. «Hier müssen wir uns Beschimpfungen anhören, werden gegängelt, und es ist eng», sagt er. Die älteste Tochter ist inzwischen 14 Jahre alt und brauchte ein eigenes Zimmer, woran in der kleinen Hütte nicht zu denken ist. Schon jetzt hat er kein Geld, um Kerosin für den Ofen zu kaufen. Doch all das sei immer noch besser als das, was ihn in Syrien erwartet. «Wir sind hier Vertriebene und wären es dort», sagt Raad. «Hier habe ich wenigstens ein Dach über dem Kopf, auch wenn es rein regnet.»

Quelle: nzz

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