Bis Silvester taten sich Politik und Polizei in NRW oft schwer, offensiv über Straftaten Zugewanderter zu sprechen. Keinesfalls wollte man Rechtsradikalen Vorlagen geben. Das scheint sich zu ändern.
Seit 1980 sitzt der Herr mit dem grauen Bärtchen im Düsseldorfer Landtag. Lothar Hegemann, CDU, ist der dienstälteste Volksvertreter in Nordrhein-Westfalen. Nennt er etwas historisch, hat das Gewicht. Am Montag debattierte der Innenausschuss des Landtags über die Kölner Silvesternacht – und für Hegemann ereignete sich dabei eine Zäsur: „Zum ersten Mal seit Jahren“ hätten die Abgeordneten „offen über Ausländerkriminalität reden können, ohne gleich als rechts beschimpft zu werden“.
Zumindest eines stimmt: Offensiv wie selten zuvor wird in NRW über Zuwandererkriminalität gesprochen – als wäre da etwas zu kompensieren. Ist es auch. Schon 2014 wussten der Innenminister, sein Staatssekretär und Innenpolitiker aller Fraktionen, dass es unter Flüchtlingen eine Problemgruppe gab: Nordafrikaner, die massiv klauten, tranken, Frauen belästigten und Gewalt verübten. Doch dieses Wissen wurde eher diskret behandelt, zumindest von Regierungsseite.
Diese Schweigekultur habe in NRW Tradition, so sehen es manche. Über Jahre sei von Politik und Polizei über ausländische Straftäter deutlich leiser gesprochen worden als über deutsche, so klagen CDU-Innenpolitiker wie eben Hegemann oder Gregor Golland. Seit Köln scheint das Schweigen jedoch passé. Im einwohnerstärksten Bundesland vollzieht sich ein politischer Klimawandel. Es wird mehr von dem gewagt, was vorher politische Inkorrektheit hieß.
Diese Woche jedenfalls nahm keiner mehr ein Blatt vor den Mund – vom Innenminister Ralf Jäger (SPD) über Teile der Grünen bis zur Opposition. Jäger sprach von den Kölner Tätern als „nahezu ausschließlich Migranten“ und „auch 2015 eingewanderten Flüchtlingen“. Kriminaldirektor Dieter Schürmann beschrieb, wie „nordafrikanisch-arabische Männer“ den Frauen „die Kleider vom Leib rissen“ und sie „penetrierten“. Präzise legte er dar, wie durch diese Migranten „ein neues Kriminalitätsphänomen“ importiert worden sei: sexuelle Gewalt von Männergruppen, die Opfer einkreisen, misshandeln, ausrauben.
Wer warnte, wurde ausgelacht
Die grüne Innenpolitikerin Monika Düker wehrte sich gegen die „Unterstellung“, SPD und Grüne kehrten „Straftaten krimineller Ausländer“ unter den Teppich. Für „eine hochproblematische Gruppe jüngst eingetroffener Migranten aus Marokko und Algerien“ sei ein „repressives Konzept“ nötig. In NRW sind das nicht ganz alltägliche Worte. Als vor Jahren CDU-Mann Golland warnte, die Politik müsse die „Antänzer“ unter die Lupe nehmen, also nordafrikanische Banden, die ihre Opfer ablenkten und ausraubten, lachten einige von SPD, Grünen und Piraten noch Tränen über eine so skurrile Idee. Im Plenum forderten sie, die CDUler sollten die angeblichen Tricks der Antänzer mal vortanzen.
Aufschlussreich war insbesondere eine Sitzung des Innenausschusses im Oktober 2014. In dieser Sitzung wurde allen Beteiligten spätestens bewusst, dass das Phänomen krimineller nordafrikanischer Männergruppen im ganzen Land auftauchte und für Unruhe sorgte. Damals sprach der Ausschuss in großer Breite über die Problemgruppe junger Nordafrikaner – aber, obwohl der Ausschuss natürlich öffentlich tagte, hätte man fast auf die Idee kommen können, hier werde so etwas wie ein Staatsgeheimnis besprochen. Von Innenminister Jäger über dessen Staatssekretär Bernhard Nebe bis zu Innenpolitikern von CDU, FDP und Grünen kam man überein, dass es in NRW tatsächlich eine gefährliche Gruppe nordafrikanischer Asylbewerber gebe, die exzessiv trinke, Bürger angreife und belästige und Geschäfte ausraube.
CDU-Innenpolitiker Werner Lohn hatte aus Wickede gehört, dass „allein reisende Nordafrikaner wirklich massive Exzesse im Zusammenhang mit Alkoholkonsum, Angriffe und Pöbeleien in Richtung Geschäftsleute“ verübt hätten. „Ganze Gruppen“ gingen in Geschäfte, um „dann sozusagen das Bezahlen zu vergessen“. Auch Joachim Stamp, FDP, kannte „die Probleme mit dieser Zielgruppe“, unter anderem aus Hemer. Die Grüne Düker stimmte zu. Sie kenne einen Bericht aus Urbach, „der mich ein wenig besorgt macht“.
Parteiübergreifendes Schweigen
Innenminister Jäger sagte, da dürfe „man nichts beschönigen“. Mit dieser Personengruppe „einen Umgang zu finden, ist ganz und gar nicht einfach. Ich habe da keine Lösung parat.“ Dann aber, nachdem man sich das Problem eingestanden hatte, befanden fast alle Ausschussmitglieder, hierdurch könnte „Angst“ vor Flüchtlingen geschürt werden und „die öffentliche Wahrnehmung kippen“, so Nebe.
Auch der Liberale Stamp warnte, „dass von interessierter Seite entsprechend Stimmung gemacht wird“. Man müsse ja „froh sein“ über „die derzeitige vernünftige mediale Berichterstattung zu den steigenden Flüchtlingszahlen“. Aber es gebe „einen außerparlamentarischen Wettbewerber“, „den wir nicht unbedingt stärken wollen“. So mancher Zuhörer verstand diese Warnungen so: Wer das Nordafrikanerproblem publik macht, unterstützt Fremdenfeinde und die AfD. Wer wollte diese Verantwortung schon auf sich nehmen?
Als sei man sich parteiübergreifend einig geworden, nun keinen öffentlichen Alarm zu schlagen, wurde denn auch keine parlamentarische Expertengruppe eingerichtet, keine interfraktionelle Offensive gestartet und kein ministerieller Soforterlass auf den Weg gebracht. Ja, es wurde auch kein Eilantrag für eine Landtagsdebatte einberufen oder auch nur eine aktuelle Viertelstunde. Fairer Weise muss man aber auch hinzufügen: Zumindest die Opposition blieb dran am Thema. Auf dem nicht öffentlichen Integrationsgipfel des Landes 2015 erkundigte sich Freidemokrat Joachim Stamp erneut, was das Land zu tun gedenke, um mit der Problemgruppe klarzukommen. Und im April 2015 ging der Innenausschuss nochmals auf Drängen Stamps auf das Thema ein. Dreimal fragte der Liberale nach, wie Innenminister Jäger mit der kriminalitätsaffinen Gruppe zu verfahren gedenke. Doch Jäger beschied ihn, „eine generelle Lösung“ werde man „nicht finden“. Er setzte alein auf zwei kleine lokale Sozialarbeiterprojekte in Dortmund und Köln, die sich aber fast ausschließlich um minderjährige allein Reisende kümmern. Ansonsten spielte der Minister nicht allzu laut.
So hielten es auch die Politiker in Kommunen, die von den Gangs heimgesucht wurden. Zwar wandten sich, wie Staatssekretär Nebe bestätigte, schon 2014 Bürgermeister ans Innenministerium wegen der Problemzuwanderer. Aber öffentlich schwiegen sie. Obwohl sie dem Ministerium drastische Vorgänge schilderten, etwa aus dem beschaulichen Wickede, blieb alles intern.
In den Medien wurde ein anderes Bild gemalt. Der WDR berichtete noch 2015 aus Wickede, wie harmonisch man dort mit den Flüchtlingen lebe. Konflikte? Nö.
Die stille FDP und CDU
Und die Polizei? Seit 2008 gilt ein Erlass, der sie mahnt, die Nationalität von Tätern und Tatverdächtigen nur ganz zart zu benennen: „keine Stigmatisierungen, Kategorisierungen oder pauschalen Bezeichnungen für Menschen“. „Auf die Zugehörigkeit zu einer Minderheit“ werde „in der Berichterstattung nur hingewiesen, wenn sie für das Verständnis des Sachverhalts oder für die Herstellung eines sachlichen Bezugs zwingend erforderlich ist“. Medienauskünfte dürften „auf Beteiligung nationaler Minderheiten“ nur hinweisen, „wenn im Einzelfall ein überwiegendes Informationsinteresse oder Fahndungsinteresse“ bestehe. Was das bewirkte, schildert Sebastian Fiedler, Landeschef des Bundes deutscher Kriminalbeamter: „Um auf der sicheren Seite zu stehen, erwähnten die meisten Polizisten die Nationalität nicht deutscher Täter von da an überhaupt nicht mehr.“
Nun will Minister Jäger den Erlass neu interpretieren: Man dürfe ihn nicht als „Anweisung“ missverstehen, „dass Nationalitäten in internen oder externen Polizeiberichten nicht genannt werden dürfen“. Polizeivertreter rieben sich verwundert die Augen.
CDU und FDP blieben auffallend still. Kein Wunder, es war der damalige Innenminister Ingo Wolf von der FDP, der den umstrittenen Erlass 2008 verfasste – in Absprache mit dem christdemokratischen Koalitionspartner.
In einer früheren Version dieses Artikels lautete der Titel „Kriminelle Nordafrikaner, ein lang gehütetes Staatsgeheimnis“. Diese Überschrift war überspitzt und nicht durch den Text gedeckt, daher haben wir den Titel nun nachträglich geändert.