Der langjährige SPD-Chef Sigmar Gabriel hat seiner Partei vorgehalten, in der Flüchtlingspolitik zu naiv gewesen zu sein. Zugleich begrüßte er die Klarstellung der neuen Parteivorsitzenden Andrea Nahles, die für ihren Satz „Wir können nicht alle aufnehmen“ in Teilen der SPD heftig kritisiert wird.
„Ich kann nur allen raten, sich die Lebenswirklichkeit im Land sehr aufmerksam anzuschauen“, sagte Gabriel den Zeitungen der Funke-Mediengruppe. Die Debatte sei absolut notwendig. „Und ich freue mich, dass die Parteivorsitzende der SPD mittlerweile einen wesentlich unideologischeren Zugang zu dem Thema hat. Das war nicht immer so.“ Nahles habe nun eine Binsenwahrheit ausgesprochen. „Und immer noch gibt es Streit über diesen Satz.“
Er könne für sich in Anspruch nehmen, sagte Gabriel, nach 2015 als damaliger SPD-Chef und Vizekanzler die Schattenseiten der hohen Zahl geflüchteter Menschen benannt zu haben. „Darauf habe ich sehr früh hingewiesen und zu Realismus aufgefordert. Dafür habe ich viel Kritik gerade auch in meiner eigenen Partei einstecken müssen, weil die Stimmung damals eine relativ unpolitische und naive war. Dort liegen unsere eigentlichen Fehler.“
Naive Flüchtlingspolitik nutze Populisten
Gabriel hatte seinerzeit einen Solidarpakt vorgeschlagen, damit der Staat sich genauso um die Sorgen der Einheimischen kümmert wie um die der Flüchtlinge. „Die SPD hat sich gescheut, das zu tun, weil sie Angst hatte vor dem Vorwurf, damit bedienst du die Vorurteile. Aber wenn eine Partei sich nicht damit befasst, dann gibt es ein Repräsentationsdefizit, das Populisten nutzen“, sagte er.
Die in ihrer Existenz bedrohte SPD muss sich nach Ansicht Gabriels als Partei der Digitalisierung neu erfinden. „Die Sozialdemokratie ist mit der ersten industriellen Revolution groß geworden. Welche Haltung hat die Partei zur vierten industriellen Revolution?“ Die Reformansätze dürften sich nicht „in liberalen und in Teilen elitenbezogenen Diskursen“ erschöpfen. „Sonst ergeht es uns so wie den Demokraten in den USA.“ Die Digitalisierung biete zum ersten Mal auch die Chance, Freiheitsspielräume nicht nur für Unternehmen, sondern auch für Beschäftigte zu nutzen. „Das auszubauen und nicht defensiv zu sagen, wir brauchen ein solidarisches Grundeinkommen, einige arbeiten 70 Stunden, andere gar nicht und bekommen dafür 1500 Euro, das ist fast schon ein euphorisierendes Thema.“