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Wenige Tage vor einem entscheidenden EU-Gipfel in der nächsten Woche wächst in Brüssel die Sorge über die innenpolitischen Turbulenzen in Deutschland. Wichtige europapolitische Weichenstellungen stehen bevor, aber Berlin ist mit sich selbst beschäftigt.
In den oberen Stockwerken des Brüsseler Berlaymont-Gebäudes, wo die Entscheider und Planer der EU sitzen, sind besorgte Stimmen einzuholen. Am Donnerstag beginnt ein Sondergipfel, bei dem zähes nächtelanges Feilschen um den EU-Haushalt der nächsten Jahre droht.
Deutschland als größtem Beitragszahler kommt beim Verteilungskampf eine Schlüsselrolle zu. Doch die aktuellen Ereignisse in Erfurt und Berlin, die Führungskrise der CDU habe bei den deutschen Verhandlungspartnern die Konzentration auf europapolitische Herausforderungen nicht gerade geschärft, heißt es in der EU-Führungsetage.
Zuarbeiter für EU-Gipfel: „Merkel ein Totalausfall“
In EU-Diplomatenkreisen fällt das Urteil noch schärfer aus. „Die Merkel war eh schon im semikomatösen Zustand. Und jetzt ist sie ein Totalausfall“, sagt ein hochrangiger regelmäßiger Zuarbeiter für EU-Gipfel. Damit falle die größte Volkswirtschaft und der größte Nettozahler der EU als gewichtiger Faktor quasi aus. Denn es stelle sich die Frage: „Wie lange hat Frau Merkel überhaupt noch etwas zu sagen?“
Der Wechsel im Parteivorsitz der CDU sei vor dem Sommer zu erwarten, sagt der Diplomat voraus. Für die bevorstehende Auswahl des künftigen CDU-Kanzlerkandidaten hält er schon ein Ausschlusskriterium parat: „Den Laschet verspeisen die meisten EU-Staats- und Regierungschefs als Gabelfrühstück.“ Armin Laschet, der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, gilt ebenso wie Gesundheitsminister Jens Spahn und der frühere Vorsitzende der Unions-Bundestagsfraktion, Friedrich Merz, als Aspirant auf die Kanzlerkandidatur.
Berlin bald im EU-Ratsvorsitz gefordert
Der FDP-Europaabgeordnete Moritz Körner weist darauf hin, dass Deutschland in den nächsten Monaten nicht nur gestiegene Verantwortung für die EU-Finanzen trägt: „Die CDU ist damit beschäftigt, ihren nächsten Kanzler zu suchen. Wir haben aber eine deutsche Ratspräsidentschaft vor der Brust, die jetzt die Priorität der Bundesregierung sein müsste.“ Mitte des Jahres übernimmt die Bundesrepublik von Kroatien den Vorsitz im Europäischen Rat.
Diplomatische Beobachter in Brüssel gehen mittlerweile davon aus, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel den Ratsvorsitz noch absolviert und dann zum Ende des Jahres die Kanzlerschaft abgibt. Der grüne Europaabgeordnete Daniel Freund sieht die deutsche Handlungsfähigkeit jetzt schon eingeschränkt. „Das Koalitionschaos in Berlin lähmt die deutsche Europapolitik“, kritisiert er. „Nur wenige Monate vor der deutschen Ratspräsidentschaft ist nicht erkennbar, dass die Bundesregierung europäische Politik gestalten will.“
Die Tagesordnung in Brüssel werde gegenwärtig von anderen Mitgliedstaaten der EU bestimmt. Alles Quatsch, findet der CSU-Europaabgeordnete Markus Ferber: „Die Bundesregierung ist handlungsfähig.“ Ob das auch für die Schwesterpartei CDU gilt, lässt er freilich offen. „Die Schwester ist über 18 und darf abends allein ausgehen.“
Verheerendes Presseecho quer durch Europa
Weniger süffisant und eher alarmiert hat die europäische Presse reagiert. Zahlreiche Kommentare fürchten sich davor, dass Deutschland aus dem Gleichgewicht geraten und Europa mit ins Chaos ziehen könne. „Mit jedem Tag, den die Debatte den größten politischen Block Deutschlands in ihrem Bann hält, wächst das Machtvakuum im Herzen Europas“, sorgte sich die „Irish Times“.
Der österreichische „Standard“ urteilte, die Chancen stünden schlecht, dass Merkel die deutsche EU-Präsidentschaft nun noch als „glänzenden Abschluss einer langen Kanzlerschaft im Dienste Europas“ gestalten könne: „Merkel steht aus der Sicht der EU-Partner für das Vergangene, nicht für dynamische Zukunft. Die Krise in Berlin lähmt Europa.“ Etliche Kommentatoren befürchten Auswirkungen des politischen Bebens in Deutschland auf andere EU-Länder.
So warnte die griechische Zeitung „Efimerida ton Syntakton“: „Eine völlige Destabilisierung der politischen Landschaft in Deutschland in Form einer anhaltenden Krise nach den Wahlen im September 2021 würde den euroskeptischen, rechtsextremen Populismus sowohl in Frankreich als auch in Italien befördern.“ Und „El Mundo“ aus Spanien resümierte: „So eine ernste Führungskrise in dem Land, das am stärksten die Werte der EU gegen die sich ausbreitende Europafeindlichkeit verteidigt hat, könnte eine Instabilität bringen, die für das Gemeinschaftsprojekt nichts Gutes brächte.“