Theologe Bülent Ucar stellt klar: Es sei Konsens in allen muslimischen Denkschulen, dass Mädchen vor der Pubertät kein Kopftuch tragen müssen. Er attestiert eine „krankhafte Fixierung“ aller Seiten auf das Thema.
Bülent Ucar ist Direktor des größten islamtheologischen Instituts in Deutschland. An der Universität Osnabrück erforscht er die Glaubensgrundlagen und bildet Religionslehrer aus. Im WELT-Interview erklärt er, was er von den Überlegungen der nordrhein-westfälischen Regierung hält, ein staatliches Kopftuchverbot für Mädchen einzuführen.
WELT: Herr Ucar, Mohammed hatte selbst Töchter und Enkeltöchter. Wurden sie als Kinder verschleiert?
Bülent Ucar: Dazu ist nichts überliefert. Tatsächlich ist uns keine religiöse Quelle bekannt, aus der hervorginge, dass Kinder vor der Pubertät ein Kopftuch tragen müssten. Das ist Konsens in allen islamischen Denkschulen.
WELT: Dennoch gibt es immer wieder Eltern, die sich auf den Koran beziehen, wenn sie die Verschleierung ihrer Kinder begründen wollen. Haben diese Eltern etwas falsch verstanden?
Ucar: Wir haben insgesamt eine aufgeheizte Grundstimmung in unserer Gesellschaft, die bar jeder differenzierten Sachlogik ist. Folglich haben wir auch eine krankhafte Fixierung auf das Kopftuch von allen Seiten – auch von Teilen der Elternschaft.
WELT: Was wollen diese Eltern erreichen?
Ucar: Eltern, die auf einer Verschleierung beharren, wollen ihre Kindern möglichst früh an das Kopftuch gewöhnen, um zu verhindern, dass sie sich nach der Pubertät dagegen entscheiden. Das halte ich nicht nur theologisch für fragwürdig – sondern auch aus pädagogischer Sicht für problematisch.
WELT: Warum?
Ucar: Weil das die Kinder überfordert. Wenn ein kleines Mädchen mit Kopftuch in der Schule auftaucht, kann das zu Nachfragen der Lehrer führen und zu Ausgrenzungserfahrungen. Teilweise werden die Mädchen auch zu Islamexperten hochstilisiert und müssen sich rechtfertigen, obwohl sie gar keine Eignung haben.
WELT: Wie hoch schätzen Sie den Anteil der Muslime ein, die ihre Töchter mit Kopftüchern ausstatten?
Ucar: Jedenfalls als nicht so hoch, wie es derzeit dargestellt wird. Ich habe lange als Lehrer an Grundschulen in Bonn und Duisburg unterrichtet – da betrug der Migrantenanteil 70 Prozent oder mehr. Selbst dort gab es nur einen ganz kleinen Anteil von Grundschülerinnen mit Kopftuch. Die aktuelle Debatte scheint mir eher eine Scheindebatte zu sein, die kulturkämpferisch aufgeladen ist, weil es die Menschen bewegt.
WELT: Die nordrhein-westfälische Staatssekretärin Serap Güler sagt aber, das Phänomen der kopftuchtragenden Mädchen werde „immer sichtbarer“ – auch in Kitas.
Ucar: Solche Äußerungen sind mit Vorsicht zu genießen. Es kann sein, dass es durch den Flüchtlingszustrom eine Zunahme gibt, aber das müsste erst nachgewiesen werden. Bislang kenne ich keine wissenschaftliche Studie, die sich mit der Entwicklung der Zahlen im Kita- und Grundschulbereich befasst hätte. Was wir wissen, ist, dass der Anteil der kopftuchtragenden Musliminnen in Deutschland insgesamt geringer geworden ist. Er hat sich in den letzten Jahrzehnten von rund 40 auf 20 Prozent heruntergeschraubt.
WELT: Allerdings gibt es Entwicklungen, die in eine andere Richtung weisen. In der Türkei war das Kopftuch an Schulen lange verboten, nun ist es zumindest ab der fünften Klasse wieder erlaubt. Was bedeutet das für die türkische Community hier?
Ucar: Die ermöglichte Wahlfreiheit führt nicht dazu, dass die Zahlen der Kopftuchtragenden steigen – auch in der Türkei sind sie rückläufig. Allerdings ist es ein Faktum, dass die Bereitschaft der Frauen größer ist, das Kopftuch auch nach der Pubertät zu tragen, wenn sie es bereits in der vorpubertären Phase trugen.
WELT: In NRW gibt es jetzt Überlegungen, das Kopftuch für unter 14-Jährige ganz zu verbieten. Was sagen Sie dazu?
Ucar: Das halte ich nicht für zielführend. Verbotserklärungen vom Obrigkeitsstaat werden wenig erreichen. Denn das führt einerseits zu Trotzreaktionen, andererseits werden dadurch Entfremdungsprozesse von Staat und Teilen der Bevölkerung forciert. Letztlich verfestigt man Parallelgesellschaften, weil die Kinder in der Schule möglicherweise anders auftreten als privat in den Familien.
WELT: Gegner des Kopftuchs argumentieren mit dem Wohl der Kinder. Ihr Kollege Mouhanad Khorchide etwa berichtet von Mädchen, die gegen ihren Willen von ihrer Familie dazu gezwungen würden, ein Kopftuch zu tragen. Muss der Staat das einzelne Mädchen nicht schützen?
Ucar: Die Debatte ist leider hysterisch aufgeladen. Wenn es Fälle gibt, in denen Kinder und Jugendliche gegen ihren Willen zum Kopftuchtragen verpflichtet werden, dann muss der Staat natürlich eingreifen und das Kindeswohl in den Mittelpunkt seines Handelns stellen. Aber für ein weitreichendes Verbot sehe ich in Deutschland auch rechtlich keine Basis. Letztlich gibt unser Grundgesetz das Erziehungsrecht für religionsunmündige Kinder den Eltern – und nicht dem Staat. Der Staat muss es ertragen, wenn ein Kind mit einer Kippa oder einem Kreuz oder einem Kopftuch in die Schule kommt. Wenn sich etwas ändern soll, dann sind es die Eltern, die sich bewegen müssen.
WELT: Das heißt: Der Staat kann, darf und soll gar nichts tun?
Ucar: Doch. Ich sehe die Lehrkräfte in der Verantwortung, die Kinder und Jugendlichen aufmerksam zu beobachten. Dort, wo es bedenkliche Entwicklungen gibt, muss man mit den Eltern reden – bestenfalls auch in Zusammenarbeit mit den Moscheevereinen. Wenn die Schule das Gefühl hat, dass die Sicherheit des Kindes gefährdet ist, dann darf sie auch nicht vor Zwangsmaßnahmen zurückschrecken.