Ihre Tochter und ihr Enkel wurden ermordet, von einem Algerier mit deutschem Pass. Marianne H. findet, seine Kultur hat den Täter gefährlich gemacht.
Marianne H. ist 64 Jahre alt, als sie zum ersten Mal in ihrem Leben eine Demonstration besucht. Es ist der 8. März 2019, Weltfrauentag. Ein kalter Wind weht über den Hamburger Gänsemarkt. Die Vereinigung „International Women in Power“ hat mit der „Initiative an der Basis“ zu einem Protestmarsch aufgerufen, „Migrantinnen demonstrieren in Hamburg gegen die Unterdrückung von Frauen und Mädchen“. Einige Demonstrantinnen halten Fotos in den Händen. Viele der abgebildeten Frauen sind Iranerinnen. Sie sitzen in Haft oder sind tot – hingerichtet. Auch Marianne H. hat ein Bild dabei, es fällt auf, weil die Frau und der kleine Junge darauf blond sind. Auch sie leben nicht mehr – ermordet.
Marianne H. wirkt, als würde sie sich fragen, wo sie hingeraten ist. Drei Frauen schwirren um sie herum, eine von ihnen hat es eilig: „Schnell, stellt euch in die erste Reihe!“, sagt sie. Als Hourvash Pourkian, die Organisatorin der Demo, ihre Rede beginnt, hält Marianne H. mit einer Hand ein Banner der „Initiative an der Basis“ fest. Mit der anderen Hand reckt sie ein Schild hoch. „Wacht auf! Hört auf zu schweigen“ steht in weißer Schrift auf schwarz bemalter Pappe. Pourkian fordert die Gruppe auf, ihre Parolen zu wiederholen oder ein dreifaches Nein! zu entgegnen. „Wir fordern Solidarität mit den Frauen im Iran!“ Als Pourkian „Wir sagen Nein zu Ehrenmorden!“ ruft, schreit Marianne H.: „Nein! Nein! Nein!“ Es bleibt einer der wenigen Momente, in denen sie sich an diesem Nachmittag verstanden fühlt.
Die Demo zieht zum Rathausmarkt. Eigentlich sollte Marianne H. dort ihre Geschichte erzählen. Aber ihr Beitrag wurde gestrichen. Sie weiß nicht, wer das entschieden hat. Ihre Rede hätte mit den Worten begonnen, die sie oft wählt: „Meine Tochter Anne und mein Enkelkind Noah wurden mit dem Messer bestialisch ermordet. Der Täter war der Vater und Lebensgefährte, er war 2002 als Flüchtling aus Algerien gekommen.“
„Ich war ihr nie so nah wie heute“
Ortswechsel. Ein Dorf bei Eckernförde in Schleswig-Holstein. Hier lebt Marianne H. als Künstlerin. Draußen blühen die Forsythien, in der Ferne ist die Ostsee zu sehen. Ihr Garten hat sie vor zwei Jahren daran erinnert, dass es irgendwie weitergehen muss. Nun ziehen Regenschauer auf. Marianne H. sitzt an ihrem Esstisch und sagt: „Ich gehe mit Anne ins Bett, und ich stehe morgens mit ihr auf. Ich war ihr nie so nah wie heute, obwohl sie tot ist.“
Anne Metzger, Jahrgang 1978, ist das erste Kind von Marianne H. und ihrem Ex-Mann. Anne kam in Freiburg zur Welt, zwei Brüder folgten. Die Familie zog nach Schleswig-Holstein, in ein Dorf nahe der Schlei, Marianne H. nennt es „unser Bullerbü“, aber Freiburg fehlte ihr anfangs.
„Die Stadt war früh eine Grünen-Hochburg, das kam mir als Ökofrau entgegen. Das wollten wir an die Kinder weitergeben. ‚Du musst in die Welt hinaus!‘, haben wir zu Anne gesagt, als sie mit der Schule fertig war. Wir schickten sie ein Jahr nach Irland zur Schule. Heute würde ich sagen: Es gibt Gefahren, die nicht zu unterschätzen sind! Wir hatten eine gute Zeit in Deutschland. Das hat uns sorglos gemacht. Die Schrecken passierten früher woanders. Jetzt kommt alles zu uns. Ich mache mir Vorwürfe, dass ich die Kinder liberal und zur Gutgläubigkeit erzogen habe.“
Marianne H.