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Feb 03

Überwachung der AfD: Brach der Verfassungschutz wegen „etablierter Kräfte“ ein?

Thomas Haldenwang, Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz. (Bild: Alexander Becher/ EPA)

Mit dem Beschluss, die AfD zu beobachten, hat das Bundesamt für Verfassungsschutz eine Kehrtwende vollzogen. Bisher galt die Linie, keine Parteien als Ganzes zu beobachten, um den politischen Wettbewerb nicht zu verzerren. Der Druck der etablierten Kräfte war wohl zu gross.

  • Normalerweise begegnet die deutsche Öffentlichkeit den Nachrichtendiensten mit Misstrauen. Schnell heisst es, die Beobachtung mit verdeckten Mitteln stelle einen Anschlag auf die Bürgerrechte dar. Als jedoch das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) ankündigte, man werde die AfD ins Visier nehmen, gab es von allen Seiten nur Zustimmung – von der «Süddeutschen Zeitung» bis zur «FAZ». Solche Einigkeit in einer hochsensiblen Frage ist immer verdächtig, weil sie unvermeidlich den Verdacht weckt, die etablierten Kräfte wollten sich missliebige Konkurrenz vom Hals schaffen.
  • Tatsächlich muss man einen Zusammenhang zwischen der Ankündigung und den Wahlen in drei ostdeutschen Ländern vermuten. Eine der beiden Parteigruppierungen, die besonders intensiv beobachtet werden sollen, ist vor allem in Ostdeutschland aktiv. Ausserdem scheint sich die AfD im Vergleich zur jüngeren Vergangenheit nicht erkennbar radikalisiert zu haben.
  • Vielmehr hat eine besonders umstrittene Führungsfigur die Partei verlassen, nämlich der Fraktions- und Parteichef von Sachsen-Anhalt, André Poggenburg. Der schleswig-holsteinischen Landesvorsitzenden Doris von Sayn-Wittgenstein warf die AfD rechtsextremistische Umtriebe vor, und sie leitete ein Ausschlussverfahren ein. Offenkundig ist die Parteispitze darauf bedacht, durch gezielte Tabubrüche ihren rechten Rand an sich zu binden, zugleich aber bestimmte Grenzen nicht zu überschreiten.
  • Auch die Linkspartei und ihre Vorläuferin PDS nahmen die Inlandgeheimdienste ins Visier, besonders eine kommunistische Gruppe mit ihrer Frontfrau Sahra Wagenknecht. Dennoch florierte die Linkspartei zunächst dank ihrer Opposition gegen die Hartz-Reformen, bis sie mit ihrem Plädoyer für eine ungesteuerte Migration ihren Abstieg in der ehemaligen DDR heraufbeschwor. Und die Kommunistin von einst ist der Medienliebling von heute. Die Überwachung einiger Gruppen in der Partei dauert übrigens heute noch an, von allen unbemerkt ausser von der Linkspartei selbst, die sich deswegen in einer seltsamen Allianz mit der AfD gegen die Massnahmen des Verfassungsschutzes stellt.
  • Das Beispiel der Linken zeigt, dass man sich mit populistischen Parteien politisch auseinandersetzen muss und dass dies viel eher zu ihrem Niedergang beiträgt als behördlicher Aktivismus. Doch in Deutschland, wo jeder nach dem Staat ruft, sobald er ein Problem zu erkennen glaubt, ist das Vertrauen in die Selbstheilungskräfte der Demokratie nicht ausgeprägt.
  • Das Bundesamt für Verfassungsschutz hat die Problematik selbst erkannt, weshalb es unter seinem Präsidenten Hans-Georg Maassen im Jahr 2013 beschloss, keine Partei mehr als Ganzes zu überwachen, sondern allenfalls deren Untergliederungen. Man war davon überzeugt, dass die Beobachtung den politischen Wettbewerb verzerrt und die Konkurrenten der inkriminierten Partei bevorteilt. Ab 2017 allerdings forderten die etablierten Parteien zunehmend eine Kontrolle der AfD.
  • Maassen widerstand dem Druck zunächst – auch dann, als kolportiert wurde, der oberste Verfassungsschützer lasse die kritische Distanz zu den Rechtspopulisten vermissen. Eine Äusserung Maassens in einem Interview bot dann die Gelegenheit, ihn zu ersetzen. Der Nachfolger Thomas Haldenwang war klug genug, seine Amtszeit nicht im Streit mit der Politik zu beginnen.
  • Die «wehrhafte Demokratie» wird durch Populisten von rechts und links nicht ernstlich herausgefordert. Eine rote Linie überschreiten Parteien erst dann, wenn sie den Weg von der Propaganda zur Tat gehen, zur Gewalt aufrufen oder davorstehen, selbst Gewaltakte zu begehen. Dann ist es geboten, präventiv tätig zu werden. Das ist überdies der Punkt, an dem der Schweizer Nachrichtendienst eingreift.
  • Das war in der Vergangenheit auch die Haltung des Verfassungsschutzes. Er hielt zudem fest, einzelne Extremisten in den Reihen einer Partei seien noch kein Grund, gegen diese vorzugehen. Erst wenn die Extremisten einen «steuernden Einfluss» auf die Gesamtpartei ausübten, müsse man handeln. Die AfD als Ganzes ist nicht gewaltbereit. Sie ist nach dem Urteil von ostdeutschen Verfassungsschützern nicht einmal eine rassistische Partei, auch wenn einzelne Mitglieder sich entsprechend äussern.
  • Der Verfassungsschutz klärt die Gesamtpartei künftig mit offenen Mitteln (vulgo: Zeitunglesen) auf. Gegen die Parteijugend und den besonders im Osten aktiven «Flügel» kann hingegen das grosse nachrichtendienstliche Besteck inklusive Abhörtechnik und Spitzeln zum Einsatz kommen. So weit die Beschlusslage. Allerdings rätseln manche Verfassungsschützer, was das in der Praxis heisst.
  • So wird innerhalb der Verfassungsschutzämter darüber diskutiert, ob man auch das sogenannte Brückenspektrum überwachen soll, also alle diejenigen, die irgendwo zwischen dem bürgerlich-konservativen und dem extremen Flügel der AfD stehen. Viele dieser Anhänger vertreten Positionen, die vor zwanzig Jahren in der CSU und in konservativen Kreisen der CDU üblich waren, unterdessen aber in der Union überholt sind. Was vor zwei Jahrzehnten noch selbstverständlich zum Spektrum einer demokratischen Partei gehörte, soll heute verfassungsfeindlich sein? Vielleicht haben sich nicht diese Menschen geändert, sondern nur die Kräfte in der Union. Daher überlegen auch Verfassungsschützer, wo die wehrhafte Demokratie aufhört und wo der Schnüffelstaat beginnt.
  • Ging der Verfassungsschutz in der Vergangenheit gegen alle vor, die einen Staatsstreich planten, gibt er sich heute ein viel breiteres Mandat. Dass die AfD die Bundesrepublik beseitigen will, glaubt selbst der Geheimdienst nicht. Aber er macht in der Partei einen «biologisch-rassistischen oder ethnisch-kulturellen Volksbegriff» aus und leitet daraus die Berechtigung zur Überwachung ab. Sobald Menschen wegen ihrer Hautfarbe, ihrer Herkunft oder ihrer Religion ausgegrenzt würden, sei die verfassungsmässige Ordnung in Gefahr. «Wer eine Gesellschaft will, in der bestimmten Gruppen von Menschen ein von vorneherein abgewerteter rechtlicher Status zugeschrieben wird und diese einer demütigenden Ungleichbehandlung ausgesetzt werden, wendet sich gegen die Garantie der Menschenwürde», heisst es im Gutachten des Verfassungsschutzes.
  • Damit begibt sich der Dienst auf dünnes Eis. Auch das Grundgesetz grenzt aus, indem es eine klare Linie zieht zwischen Staatsbürgern und Ausländern, denen bestimmte politische und soziale Rechte verwehrt werden. So liegt die Bundesregierung mit Brüssel über Kreuz, weil Berlin den Bezug von Sozialhilfe durch EU-Bürger enger fassen will als die Kommission. Um einen von «vorneherein abgewerteten rechtlichen Status» zu vermeiden, müsste jeder Person ab dem ersten Tag ihres Aufenthalts in Deutschland der uneingeschränkte Zugang zu allen staatlichen Leistungen gewährt werden – unabhängig von der Staatsangehörigkeit.
  • Zugleich privilegiert der Staat die christlichen Kirchen. Er treibt die Kirchensteuer ein, die ja nichts anderes ist als der Mitgliedsbeitrag für eine religiöse Vereinigung. Staat und Kirchen sind nicht strikt getrennt, was andere Religionen faktisch abwertet. Nimmt man das Bundesamt beim Wort, verdient das deutsche Staatskirchenrecht eine grundlegende Überprüfung.
  • Die CDU vertrat in ihrem jahrelangen Kampf gegen den Doppelpass ebenfalls einen ausschliessenden ethnisch-kulturellen Volksbegriff, der nur schon eine doppelte Staatsbürgerschaft ablehnt. Die hessische Union sammelte gar im Wahlkampf Unterschriften dagegen, und mancher rechtschaffene Bürger fragte: «Wo kann ich hier gegen Ausländer unterschreiben?» Von der «demütigenden Ungleichbehandlung», die der Geheimdienst kritisiert, war dies nicht mehr weit entfernt.
  • Setzt das Gutachten des Verfassungsschutzes den neuen Standard für den staatspolitischen Diskurs, steht der Bundesrepublik eine schwierige Debatte darüber bevor, was Deutschsein eigentlich noch heisst. Sie dürfte obendrein ergebnislos verlaufen, denn die Grundfrage lautet: Und was dann? Selbst wenn sich der Verdacht bestätigen sollte, dass ein substanzieller Teil der AfD verfassungsfeindliche Haltungen vertritt, bleibt dies aller Voraussicht nach ohne tatsächliche Folgen.
  • Das Bundesverfassungsgericht hat die Hürden für ein Parteiverbot sehr hoch gelegt. Selbst die rechtsextreme NPD kam deshalb ungeschoren davon. Der Verfassungsschutz wird also Informationen über Informationen zur AfD sammeln, die dann in Datenbanken und Aktenablagen allmählich dem Vergessen anheimfallen. Die wehrhafte Demokratie degeneriert zum Papiertiger.

«Der andere Blick» erscheint immer freitags und ist allen NZZ-Abonnenten zugänglich.

Quelle: nzz

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