Seit 2015 sitzen in den Jugendgefängnissen auch immer mehr Flüchtlinge. Ihre oft traumatischen Erfahrungen stellen die Sozialarbeiter und Psychologen vor Probleme – nicht nur organisatorisch.
Auf dem linken Oberarm sind zwei Herzen mit Sinuskurven tätowiert. „Das bedeutet, dass mein Herz noch schlägt“, sagt der syrische Flüchtling. Hinter ihm liegt ein weiter Weg. Damaskus, Libanon, Izmir, Griechenland, Mazedonien, Serbien, Ungarn, Freiburg, Heidelberg, Schwetzingen – Jugendgefängnis Adelsheim im Odenwald. Ende September 2015 kam der Syrer in Deutschland an. Jetzt sitzt er in der JVA-Mensa.
Im Mai 2017 verhaftete ihn die Polizei, ein paar Wochen später verurteilte eine Jugendkammer ihn zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren. „Trinken. Drogen. Ich war nicht so richtig in meinem Kopf“, sagt er. Immer mal wieder habe er Smartphones gestohlen, dann sei er erwischt worden. Verurteilt ist er nicht allein wegen Raub. Ob er noch andere Straftaten begangen habe? Der Häftling spricht plötzlich sehr leise. Die Frage ist ihm unangenehm. „Nein, nein.“ Die Sozialarbeiterin schaut ungläubig. Von einer Belästigung eines Mädchens will er nichts mehr wissen. „Wenn man in U-Haft ist, wacht man auf, dann wird der Kopf klar“, sagt er verlegen.
Keine Familie und kein soziales Umfeld
Seit Herbst 2015 müssen sich Vollzugsbeamte, Gefängnispsychologen und Sozialarbeiter in den deutschen Jugendvollzugsanstalten mit einer neuen Klientel beschäftigen: geflüchteten jungen Männern, die kaum Deutsch sprechen, häufig sogar Analphabeten sind und nach ihrer Haftentlassung oftmals noch schlechtere Perspektiven haben als Häftlinge ohne Fluchtgeschichte, weil sie draußen keine Familie, kein soziales Umfeld und fast immer einen ungeklärten Aufenthaltsstatus haben. Zwei Drittel aller Häftlinge im Jugendstrafvollzug in Adelsheim entstammen Einwandererfamilien. 23 Prozent sind junge Flüchtlinge, sie kommen aus Marokko, Algerien, Gambia oder Syrien. In einigen deutschen Gefängnissen verdoppelte sich die Zahl der Häftlinge ohne deutsche Staatsbürgerschaft seit Beginn der Flüchtlingskrise. Katja Fritsche, die Leiterin der Justizvollzugsanstalt in Adelsheim, sagt: „Flüchtlinge werden wegen der Fluchtgefahr schneller in U-Haft genommen. Die Haftdauer ist bei den klassischen Delikten aber kürzer. Das widerspricht dem öffentlichen Bild, dass mit den Flüchtlingen hier Monster zu uns gekommen sind. Es gibt mehr Untersuchungshaftfälle. Einen überproportional hohen Anteil an Mördern gibt es unter den Flüchtlingen im Jugendvollzug bei uns nicht.“
Die Flüchtlinge sind aufwendiger zu betreuen, doch die Jugendkriminalitätsstatistik der Haftanstalt hat dieser neue Häftlingstypus nicht grundstürzend verändert: Die meisten Flüchtlinge sind wegen Unterschlagung oder Diebstahl inhaftiert, dann folgen Körperverletzungsdelikte und Raub – vor allem von Smartphones, dem wichtigsten Statussymbol. 22 Prozent sitzen wegen Körperverletzungsdelikten. Bei den Flüchtlingen sind Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz und gegen das Ausländerrecht geringfügig höher als bei den anderen Insassen. Der Anteil der wegen Sexualdelikten Verurteilten in Adelsheim liegt – trotz Flüchtlingskrise – weiterhin bei sechs Prozent, bei den wegen Tötungsdelikten Verurteilten schwankt er zwischen 1,4 und drei Prozent. Schon Haftstrafen von zwei Jahren können ein Ausweisungsgrund sein, in Adelsheim liegen die Haftstrafen bei zwei Dritteln aller Häftlinge aber unter einem Jahr.
Seit 12 Jahren rückläufige Zahlen
Wolfgang Stelly ist der hauseigene Soziologe und Kriminologe in Adelsheim, er kennt die Statistik und hat sich seit Beginn der Flüchtlingskrise einen Überblick verschafft, wie sich die Gefängnisklientel verändert hat. Wegen des Rückgangs von Gewalterfahrungen in der deutschen Gesellschaft und aus demographischen Gründen ist der Zugang in den Jugendstrafvollzug allgemein seit zwölf Jahren rückläufig. 2015 erreichte man mit 451 Neuzugängen in den Justizvollzugsanstalten sogar einen neuen Tiefststand – dann kam die Flüchtlingskrise, und 2016 mussten hundert Häftlinge zusätzlich aufgenommen werden.
Die Justizvollzugsanstalt Adelsheim wurde zu Beginn der siebziger Jahre in einen alten Steinbruch gebaut. Die Hafthäuser, Werkstätten, Versorgungsgebäude und die Krankenabteilung sind wie Baracken über eine Hangfläche verteilt. Manches Gebäude erinnert eher an eine Maschinenfabrik. Aus fast allen Gebäuden und von fast allen Plätzen aus schauen die Häftlinge ins Tal und in den Odenwald hinab, sehen den Kirchturm der Kleinstadt. Sie sollen immer das Leben in Freiheit als anspornendes Lebensziel vor Augen haben.
„Im Vollzug der Jugendstrafe sollen die jungen Gefangenen dazu erzogen werden, in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen“, heißt es im baden-württembergischen Justizvollzugsgesetz. Der Auftrag des Jugendstrafvollzugs ist Erziehung. Im Vordergrund steht nicht die Resozialisierung, sondern erst mal das Ankommen in der Gesellschaft. Generalprävention zur Abschreckung von Straftätern spielt im Jugendstrafrecht so gut wie keine Rolle.
Keine Menschen zweiter Klasse
Für Sozialarbeiter, Justizvollzugsbeamte und die Meister in den Werkstätten ist es gar nicht so einfach, diesen erzieherischen Auftrag zu erfüllen. Der Wille der Gefängnisleitung ist da, aber die Möglichkeiten sind begrenzt. „Man kann nicht sagen, die werden ohnehin abgeschoben. Wir packen sie nicht in Watte, wir verharmlosen oder beschönigen nichts, aber wir behandeln sie nicht wie Menschen zweiter Klasse“, sagt Katja Fritsche. Die Entwurzelung, die Bindungslosigkeit, die Perspektivlosigkeit, das mangelnde Vertrauen in den Staat, das fehlende Unrechtsbewusstsein, der Verlust der Heimat tragen dazu bei, dass die geflüchteten Jugendlichen zu Straftätern werden. Sie sind aber auch der Grund dafür, dass eine Sozialisierung viel schwerer ist als bei deutschen Straftätern im Jugendalter. „Ich kann diesen Häftlingen wegen der Sprachbarriere nur in einem sehr eingeschränkten Umfang eine Verhaltens- oder tiefenpsychologische Therapie anbieten.“ Manch ein Flüchtling brauchte dringend eine Suchttherapie, auch um die Chancen des Rückfalls zu minimieren, aber weil die Mehrzahl keine unbefristete Aufenthaltserlaubnis hat, zahlen das die Krankenkassen nicht. Leider sei in den meisten Fällen, erzählt die JVA-Leiterin, auch nur die Unterbringung im „geschlossenen Regelvollzug“ möglich. Das heißt, für die Häftlinge gibt es feste Schließzeiten der Zelle, sie haben keine Entscheidungsgewalt über ihren Tag. Die Unterbringung in Wohngruppen scheitere auch wieder an den mangelnden Sprachkenntnissen.
Dennoch wird für die Häftlinge im Vollzug viel getan, um sie auf einen normalen Lebensweg zu bringen: Damit eine Verständigung halbwegs möglich wird, bietet die JVA in den ersten drei Haftmonaten Sprachkurse an, fünf Schulstunden pro Tag. Erst danach sollen die Flüchtlinge in den Werkstätten der JVA regelmäßig arbeiten. Es gibt auch ein spezielles, arabischsprachiges Anti-Gewalt-Training. Zur besseren Verständigung im Alltag stellte Katja Fritsche einen arabischsprachigen Sprachmittler ein. Zusätzlich setzt die JVA Video-Dolmetscher eines privaten Dienstleisters ein, denn einen Mandinka-Übersetzer kann die Anstalt für zwei oder drei Häftlinge aus Westafrika nicht einstellen. Die Häftlinge können auch Rat bei ehrenamtlichen islamischen Seelsorgern suchen, eine Möglichkeit, die sie aus Syrien oder Afghanistan gar nicht kennen, die sie in ihrer Verzweiflung in der Fremde aber gern annehmen. „Anders als deutsche Häftlinge im Jugendvollzug, die aus einer übersättigten Gesellschaft kommen, sind Häftlinge, die eine Flucht hinter sich haben, auch bei uns noch sehr stark mit dem Überleben beschäftigt. Deshalb wollen sie arbeiten, viele sind sehr fleißig, vor allem die aus Gambia“, sagt die JVA-Leiterin.
In einigen deutschen Justizvollzugsanstalten, etwa in Bayern, berichten die Gefängnisleiter von der Bildung schwer beherrschbarer Subkulturen, die durch die neue Klientel entstanden seien. In der Regel versuchen JVA-Leiter, wenn sie denn genug freie Zellen haben, dies durch eine geschickte Belegung zu verhindern und problematische Gruppen zu trennen. Oft sind die Anstalten aber so überbelegt, dass das nicht möglich ist. Katja Fritsche hat diese Probleme nicht erlebt: „Ja, es gibt Konflikte, aber es bilden sich immer wieder unterschiedliche Koalitionen. Dass sich Gangs bilden oder Subkulturen, beobachten wir im Jugendvollzug nicht.“
Der syrische Flüchtling mit dem Tattoo muss noch anderthalb Jahre in Adelsheim bleiben, dann beginnt die Vorbereitung auf die Entlassung. Über sein Asylverfahren hat das Bamf noch nicht entschieden. Ob er wieder in die Flüchtlingsunterkunft in Schwetzingen zurückgeht, entscheiden der Landkreis und das Regierungspräsidium. Draußen wartet niemand auf die Flüchtlinge, wenn sie ihre Strafe abgesessen haben. Zurück in ihre Herkunftsländer wollen sie nicht. Denn in Algerien, Syrien oder Marokko werden Rückkehrer als Verlierer angesehen, weil schon der Aufenthalt in Europa mit persönlichem Wohlstand und Erfolg gleichgesetzt wird. Der junge Syrer arbeitet fünf Tage in der Küche der Vollzugsanstalt, er kocht ein arabisches Hackfleischgericht, das nicht nur bei den arabischstämmigen Häftlingen gut ankommt. „Vielleicht kann ich eine Ausbildung zum Koch machen“, sagt er.
Weniger Hilfe als für deutsche Häftlinge
Etwa die Hälfte der Häftlinge im Jugendstrafvollzug wird nach der Entlassung rückfällig. Ob er es einmal schafft, hängt davon ab, ob er, falls er eine Lehrstelle bekommen sollte, dort dann regelmäßig zur Arbeit kommt oder ob er sich nachts auf der Mannheimer Neckarwiese wieder mit Kumpels trifft. Weil die meisten Flüchtlinge, wenn sie aus der Haft entlassen werden, keine Bewährungsauflage haben, sondern nur zu einer „Endstrafe“ verurteilt sind, bekommen sie draußen weniger Hilfe als deutsche Häftlinge, obwohl sie eigentlich eine intensivere Betreuung brauchten. Die freiwillige Hilfe von Jugendprojekten nehmen sie ganz selten in Anspruch.
Die meisten aus dem Jugendvollzug entlassenen Flüchtlinge werden von den Städten oder Landkreisen in die Sammelunterkünfte zurückgeschickt, in denen sie vor der Festnahme gewohnt haben. Schnell geraten sie wieder in den Kreislauf von Perspektivlosigkeit, Drogenkonsum und Beschaffungskriminalität.
Auf dem Schreibtisch der Anstaltsleiterin liegt ein Buch zur Biologie des menschlichen Verhaltens mit dem Titel „Gewalt und Mitgefühl“. Der Vollzug müsse sich immer an die Veränderung der Gesellschaft anpassen, meint sie, aber „wir machen mit diesem Häftlingstypus keine signifikant anderen Erfahrungen als vor der Flüchtlingskrise.“ Dann erinnert sie daran, dass Anfang der neunziger Jahre 20 Prozent der Häftlinge im Jugendvollzug Russlanddeutsche waren. Damals befürchteten viele, dass sich diese Entwicklung verstetigen würde, dass die häufig gewalttätigen Jungs aus Kasachstan Dauergäste in Adelsheim werden könnten. Das bewahrheitete sich nicht. Heute machen Russlanddeutsche nur fünf Prozent der Jugendstrafgefangenen aus.