Innerhalb von sechs Jahren hat sich die Zahl der Afghanen in Deutschland verfünffacht: auf eine Viertelmillion. Obwohl nur die Hälfte schutzberechtigt ist, bleiben fast alle da. Mit Folgen.
Im Zuge der Rekordzuwanderung sind mehr Afghanen nach Deutschland gekommen als je zuvor. Wie das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) der WELT mitteilte, kletterte die Zahl der hier lebenden Afghanen von rund 51.000 Ende 2010 auf 253.000 Ende 2016. Fast alle reisten als Schutzsuchende ein. In diesem Jahr kamen bis Ende Juli laut Bundesinnenministerium weitere 7368 asylsuchende Afghanen an.
Allerdings wurde in den vergangenen Jahren rund jeder zweite Asylantrag anerkannt, in diesem Jahr waren es laut BAMF bis Ende Juli 44,1 Prozent. Doch die meisten abgelehnten Afghanen bleiben im Land.
Über die geförderten freiwilligen Ausreisen kehrten im vergangenen Jahr nur 3300 Menschen in das Bürgerkriegsland zurück. In diesem Jahr ist der Trend, wie bei den freiwilligen Ausreisen insgesamt, deutlich rückläufig. Nach Aussage eines Ministeriumssprechers von Anfang August „liegen wir für 2017 aktuell bei etwas unter 800“ freiwilligen Ausreisen von Afghanen. Betrachtet man Zahlen zur Abschiebung abgelehnter Asylbewerber aus Afghanistan, sind die Zahlen noch geringer: Bis zur Jahresmitte wurden 261 und im Vorjahr 324 Abschiebungen vorgenommen.
Lange wurden so gut wie keine Afghanen abgeschoben: Zwischen 2013 bis 2015 waren es jedes Jahr weniger als zehn. Obwohl das von religiösen und ethnischen Konflikten geschundene Afghanistan seit Jahren einer der Hauptherkunftsstaaten von unerlaubt Einreisenden in Deutschland ist, beschlossen die beiden Länder erst im Oktober 2016 eine bessere Kooperation bei Abschiebungen. Vor allem ging es dabei um Sammelrückführungen abgelehnter afghanischer Asylbewerber in gesonderten Flugzeugen. Doch das Volumen blieb klein: Bis April wurden in fünf Flügen 106 Afghanen abgeschoben.
Weiter begrenzt wurde die Abschiebung von Afghanen dann am Tag nach dem verheerenden Attentat auf die deutsche Botschaft in Kabul am 31. Mai: Abgeschoben werden werden seither nur noch Straftäter, terroristische Gefährder und solche Ausreisepflichtige, die sich hartnäckig weigern, bei ihrer Identitätsfeststellung mitzuhelfen. Selbstverständlich auch sie nur nach einer Einzelfallprüfung.
Diese Regelung gilt so lange, bis das Auswärtige Amt zu einer neuen Beurteilung der Sicherheitslage in Afghanistan gekommen ist. Einen Zwischenbericht gibt es bereits: Er bestätigt zwar die bestehende Regelung. Doch die Bundesregierung bezeichnet darin die Bedrohungslage für afghanischen Zivilisten auch in von Taliban beherrschten Gebieten als „niedrig“.
Auf Grundlage von UN-Erhebungen zieht der Bericht das Fazit, dass „sich die Bedrohungslage für Zivilisten seit Ende der ISAF-Mission nicht wesentlich verändert“ habe. Laut UN starben jedoch in der ersten Jahreshälfte 2017 bei Gefechten zwischen Regierungstruppen und Islamisten insgesamt 1662 Zivilisten – eine Zunahme gegenüber den Jahren davor.
Weil wegen dieser Bedrohungslage kaum Afghanen abgeschoben werden, verfestigt sich ihr Aufenthalt, wie es im Behördensprech heißt. Anders formuliert: Aus der unerlaubten Einreise wird trotz Ablehnung des Asylantrags eine erfolgreiche Einwanderung. Das Ausmaß dieser Aufenthaltsverfestigung zeigt die große Differenz zwischen der Anzahl abgelehnter Asylanträge von Afghanen und der ausreisepflichtigen Afghanen: Die Zahl der ausreisepflichtigen Afghanen ist seit Jahreswechsel von 11.887 bis Ende Juli zwar auf 15.112 gestiegen, wie das BAMF der WELT mitteilt. Im selben Zeitraum wurden allerdings deutlich mehr Asylanträge abgelehnt, insgesamt 43.244.
Eigentlich wird ein Ausländer zum Zeitpunkt der Ablehnung seines Asylantrags ausreisepflichtig. Aber der Vollzug der Ausreisepflicht, also die Rückführung, kann ausgesetzt werden. Der abgelehnte Asylbewerber erhält dann eine sogenannte Duldung, bleibt aber ausreisepflichtig. Diesen Status haben etwa drei von vier ausreisepflichtigen Afghanen.
Abgelehnt, geduldet – am Ende eingewandert
Wenn die deutschen Behörden feststellen, dass ein solcher abgelehnter, aber geduldeter Asylbewerber wegen der Sicherheitslage in seinem Heimatland auf längere Zeit nicht zurückgebracht werden kann, können sie ihm eine befristete Aufenthaltserlaubnis erteilen.
Damit hat der eigentlich abgelehnte Asylbewerber schon die wichtigste Hürde zur Einwanderung genommen: Er darf arbeiten und kann nach drei weiteren Jahren eine unbefristete Niederlassungserlaubnis erhalten.
Solche Aufenthaltstitel sind auch für Härtefälle möglich und für abgelehnte Asylbewerber, die einen EU-Bürger heiraten oder mit einem solchen ein Kind haben.
Die besondere Situation in Afghanistan schlägt sich auch in den erteilten Schutztiteln nieder: 86.000 Asylentscheidungen gab es dieses Jahr bis Ende Juli über Anträge von Afghanen, 13.800 von ihnen erhielten Flüchtlingsschutz (inklusive Asyl) für individuell Verfolgte. 5200 erhielten den subsidiären Schutz für Bürgerkriegsflüchtlinge und 19.000 den vierten Schutztitel, das Abschiebungsverbot. Zum Vergleich: Unter all den Asylbewerbern aus anderen Ländern wurde das Abschiebungsverbot insgesamt nur 8000 mal vergeben.
Das BAMF erklärt dies damit, dass sich die Sicherheitslage in Afghanistan „von Provinz zu Provinz unterscheidet“ – im Gegensatz zu Ländern wie Syrien. Daher werde seltener der subsidiäre Schutz erteilt. Zudem seien unter den afghanischen Asylsuchenden vermehrt Familien mit Kindern. „Diese erhalten oftmals keinen subsidiären Schutz“, sondern ein Abschiebeverbot. „Dies ist der Fall, wenn zum Beispiel Erkrankungen vorliegen oder existenzielle Gefahren für Familien mit Kindern ohne unterstützendes Netzwerk bei Rückkehr bestehen.“