
Muslima beim Schminken (Symbolbild)
Millionen Muslime leben in Deutschland. Mit ihnen wächst die Nachfrage nach Halal-Produkten, etwa bei Kosmetik. Doch der Einzelhandel traut sich an das Thema bisher kaum heran.
Das Problem begann für Loubna B. beim Nagellack. Als gläubige Muslima betet sie fünfmal am Tag in Richtung Mekka: in der Morgendämmerung, am Mittag, zum Nachmittag, zum Sonnenuntergang und am Abend. Voraussetzung für die Gültigkeit des Gebets ist nach Sure 5, Vers 6 des Koran die rituelle Waschung des Gesichts, der Hände, Arme und Füße davor.
Damit die Waschung gültig ist, muss das Wasser die zu reinigenden Körperteile vollständig berühren – auch die Fingernägel. Die Benutzung von handelsüblichem, wasserundurchlässigem Nagellack aus der Drogerie oder dem Supermarkt ist für B. als gläubige Muslima während des Gebets daher tabu. „Auch wenn es wie eine Kleinigkeit erscheint, sind das Dinge, die einen beschäftigen„, sagt sie.
Halal als Lebenskonzept, das im Handel kaum Beachtung findet
„Halal ist ein ganzheitliches Lebenskonzept, das in fast alle Felder des Alltags reicht. Zentraler Gedanke ist es, im Einklang mit Mensch, Natur und Gott zu leben“, sagt der Theologe und Soziologe Cemil Sahinöz. Der Begriff ist arabisch und wird meist mit „das Zulässige, Erlaubte, Gestattete“ übersetzt. Häufig auch mit „rein“ und „sauber“ – je nach Kontext. Das Gegenteil von halal ist haram („verboten“).
Im Islam bedeutet halal all das, was dem islamischen Recht (Scharia) zufolge erlaubt und zulässig ist. Weltweit gibt es mehrere Halal-Standards. Neben dem malaysischen Jakim etwa das indonesische MUI oder auch SMIIC, das auf die Organisation für Islamische Zusammenarbeit (OIC) zurückgeht. Das macht den Markt unübersichtlich.
Davon, dass es halal-konforme Produkte auch in der Kosmetik gibt, erfuhr Loubna B. vor etwa drei Jahren aus dem Netz. „Länder wie Kanada sind hier Vorreiter“, sagt sie. Die gebürtige Marokkanerin kauft ihre Kosmetik online bei einem Frankfurter Anbieter.
Nicht nur ihren Nagellack, auch Make-up, Rouge und Puder bestellt sie mittlerweile über den Onlineshop. Die Produkte sind über ein britisches Siegel halal-zertifiziert. Das Zertifikat soll Verbrauchern die Sicherheit geben, dass keine Zusatzstoffe wie Gelatine oder Kollagen in der Kosmetik enthalten sind und während der Produktion und Lagerung keine Verunreinigung mit Produkten stattgefunden hat, die als nicht halal gelten. Dazu zählen etwa Schweinefette, die heute jedoch kaum noch in der Kosmetikproduktion zum Einsatz kommen, da sie schnell ranzig werden.
Deutschlandweit gibt es mehrere Unternehmen, die halal-zertifizierte Kosmetik im Internet anbieten. Allerdings mit unterschiedlichen Zertifikaten, die unterschiedliche Anforderungen stellen – nur eine scheinbare Transparenz. Im handelsüblichen Supermarkt oder in der Drogerie sucht man nach halal-zertifizierten Produkten meist vergeblich.
„Ich würde mir, ganz unabhängig von der Halal-Kosmetik, noch deutlich mehr halal-konforme Produkte im deutschen Handel wünschen“, sagt Loubna B. In anderen Ländern, etwa in Frankreich, gebe es bereits eigene Abteilungen dafür: „In Supermärkten und Drogerien hierzulande ist das die absolute Ausnahme.“
Das bestätigen Anfragen bei den Drogerieriesen DM und Rossmann. Beide sagen, dass Halal-Kosmetik für sie momentan kein wesentlicher Faktor sei. Ähnlich reagiert L’Oréal, Weltmarktführer im Kosmetikbereich. Der Konzern hat sich zwar bereits Hunderte seiner Produkte halal zertifizieren lassen. Doch der Fokus liege nicht auf dem deutschen Markt, sondern auf muslimisch dominierten Ländern.
Großes Potenzial der Halal-Kosmetik
Schaut man auf die globalen Absatzzahlen von Halal-Schönheitsprodukten, wird deutlich, welch riesiges Potenzial da auch auf dem deutschen Markt schlummert. Eine Studie des britischen Marktforschungsunternehmens Tech Navio aus dem Oktober 2018 rechnet vor, dass sich das Marktvolumen mit Halal-Kosmetik von aktuell 25 Milliarden Euro – dies entspricht etwa sechs Prozent des globalen Geschäfts mit Schönheitsprodukten – bis 2022 mit 55 Milliarden Euro mehr als verdoppeln könnte. Die durchschnittliche jährliche Wachstumsrate liegt in den nächsten drei Jahren laut Tech-Navio-Studie bei 13,55 Prozent.
Aber wie sehen nun die Zahlen in Deutschland aus? Zentral erhobene Daten gibt es nicht. Fragt man jedoch bei Herstellern wie Fair Squared nach, bekommt man eine Antwort, die kaum überrascht. Das Kölner Unternehmen bietet seine Produkte im Netz, aber auch in Dritte-Welt-Läden, Apotheken und ausgewählten Drogerien an.
„Wir verdoppeln unseren Umsatz seit Gründung des Unternehmens 2015 jährlich“, sagt Fair-Squared-Geschäftsführer Oliver Gothe, 49. Für das vergangene Jahr lag dieser bei 1,5 Millionen Euro. Gothe glaubt, dass diese rasante Entwicklung anhält: „Das Bewusstsein für Halal-Kosmetik in Deutschland beginnt gerade erst.“ Das bestätigt der Soziologe Sahinöz: „Das Bewusstsein und Interesse dafür, halal zu leben, wächst bei der jüngeren Generation der Muslime hierzulande deutlich.“
Die Themen Halal und Islam sind in Deutschland hochemotional
Da stellt sich eher die Frage: Warum schlägt sich das bisher kaum in den Warensortimenten der großen Einzelhändler nieder? Das Thema Islam und somit auch Halal ist in Deutschland hochpolitisch, die gesellschaftliche Akzeptanz für Halal-Waren gering. „Ein Wille der Politik, das Thema Halal voranzutreiben, ist überhaupt nicht vorhanden“, sagt Kemal Çalik, Chefredakteur und Gründer des Onlinemagazins „Halal-Welt„. Bis heute, kritisiert Çalik, gebe es in Deutschland etwa keine zentrale Stelle, die sich für die Anliegen von Halal-Zertifizierern zuständig fühle. Auch an Aufklärung mangele es.
Die sozialen Medien kochen, wenn Toblerone seine Schokohügel halal-zertifizieren lässt oder auf der Islamkonferenz Blutwurst serviert wird. „Ich würde mir einfach wünschen, dass solche Debatten und auch die Diskussion über das Thema Halal in unserem Land mit einer anderen Selbstverständlichkeit geführt werden“, sagt Çalik.
Hochemotional wird allein schon über die bloße Zahl der Muslime in Deutschland gestritten. Eine Studie des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bamf) geht von 4,4 bis 4,7 Millionen Muslimen im Land aus. Die Analyse bezieht sich in ihren Daten auf den 31. Dezember 2015, ist demnach über drei Jahre alt. Die AfD wettert, die Zahl der Muslime in Deutschland liege noch deutlich höher. Andere Studien dagegen gehen von der Hälfte der Muslime aus. Ein Verzeichnis, das Muslime in Deutschland registriert, gibt es nicht. Die Wahrheit darüber, wie viele Menschen es wirklich sind, die in Deutschland zu Allah beten, liegt wohl irgendwo in der Mitte.
Einig sind sich Experten jedoch darüber, dass ihre Zahl wächst. „Muslime kommen heute nicht mehr nur aus der Türkei, wir haben mittlerweile auch syrische und afghanische Muslime in nennenswerter Größenordnung. Die türkische Halal-Industrie reicht heute längst nicht mehr aus, um der Diversität dieser Zielgruppe gerecht zu werden“, sagt Sahinöz.
Für Peter Bungenberg liegt genau hier der Antrieb seiner Arbeit. Bungenberg ist Lobbyist für Nahrung, Handel und agrarische Produkte und macht daraus auch keinen Hehl. Gemeinsam mit seinem Kollegen Oguz Evler macht er sich seit Jahren für ein einheitliches Halal-Empfehlungssiegel „Gutes erlaubt“ im deutschen Handel stark – und damit hat er Großes vor.
„Im deutschen Handel stoßen sie mit Halal auf verständnisvolle Ablehnung. Ich behaupte, dass die Muslime derzeit mit Absicht nicht beachtet werden“, sagt Bungenberg. Für ihn ist schwer nachvollziehbar, warum 1,3 Millionen Veganer in Deutschland ein allgemeingültiges Qualitätssiegel als Einkaufshilfe haben, Muslime aber nicht.
Seit etwa zehn Jahren werben Bungenberg und Evler für ein einheitliches Halal-Empfehlungssiegel, seit zwei Jahren sind sie damit am Markt. Nach langer Suche haben sie sich für den Standard der malaysischen Regierungsstelle Jakim entschieden, dieser sei weltweit akzeptiert. Voraussetzung für das Empfehlungssiegel ist, dass das Produkt in mindestens einem muslimischen Staat als Halal-Produkt anerkannt ist.
Bungenberg und Evler sind mit ihrem Empfehlungssiegel bereit für den Handel – wenn der denn will. „Wir haben derzeit rund 400 Produkte, für die wir die Zusage haben, dass sie unser Empfehlungssiegel tragen würden – wenn der Handel mitspielt“, sagt Bungenberg. Genau hier liegt das Problem: „Es herrscht die große Angst, dass das durch Populisten geschürte negative Image des Islam auf die Produkte überschlägt.“
Natürlich, so der Interessenvertreter, seien der Handel und die Unternehmen, die sich beim einheitlichen Halal-Empfehlungssiegel zieren, nicht per se gegen den Islam. Dennoch, sagt Bungenberg, „unterstützen Handel und Unternehmen mit ihrem Verhalten den Rechtspopulismus – obwohl sie es gar nicht wollen“.
Norbert Kahmann bewertet dieses Spannungsfeld anders. Er ist Gründungsmitglied der Arbeitsgruppe Halal & Koscher, die die Industrie- und Handelskammer Hannover im Mai 2011 ins Leben gerufen hat. Für einen großen deutschen Hersteller von Duft- und Geschmacksstoffen arbeitet er hauptberuflich in der Qualitätssicherung. Für Kahmann sind bereits viele der Kosmetik-Produkte im Supermarkt halal-tauglich – ohne einheitliche Zertifizierung und ohne, dass dafür die Rezeptur geändert werden müsse.
Halal-Produkte seien auch bei der Industrie ein immer wichtigeres Thema, beobachtet er: Sein Arbeitskreis wachse, ihm gehören mittlerweile um die 100 Mitglieder an. Ein wesentlicher Grund hierfür ist die tiefgreifende politische Reform eines Landes, rund 11.000 Kilometer entfernt.
In Indonesien, dem mit mehr als 260 Millionen Einwohnern größten muslimischen Land der Erde, müssen ab Oktober dieses Jahres alle Produkte eine Halal-Kennzeichnung tragen. Das stellt den deutschen Export vor neue Herausforderungen.
Eine einheitliche Zertifizierung – Kahmann arbeitete in der Vergangenheit eng mit der Politik an der Ausarbeitung eines konvergenten europäischen Halal-Standards – bewertet er kritisch. Zu divers seien die Halal-Anforderungen in den unterschiedlichen Ländern, zu unterschiedlich die Lebenswelten, um diese für alle Staaten auf einen umsetzbaren Nenner zu bringen. Auch in Deutschland, wo der global anerkannte Zertifizierer Halal Control eine hohe Akzeptanz genießt. In einer hierzulande einheitlichen Zertifizierung sieht Kahmann eine „große Herausforderung, da die Standards für Halal einfach unterschiedlich definiert werden.“
Peter Bungenberg und Oguz Evler lassen sich vom Vorhaben, ein deutschlandweit einheitliches Halal-Empfehlungssiegel zu schaffen, dennoch nicht abbringen. Im Gegenteil, sie planen bereits den nächsten Schritt: ein Halal-Kompetenzcenter, das bei Zertifizierungsfragen unterstützen soll; außerdem eine App, in der Halal-Produkte ausführlich in mehreren Sprachen beschrieben werden.
„Wir haben Ideen, dafür brauchen wir aber Unterstützung – von den Muslimen und vom Handel“, sagt Bungenberg. Beide Seiten zusammenzubekommen, wird schwer. Er weiß, wovon er spricht.