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Nov 05

Mord im Wettbüro: Mammut-Prozess gegen Rockerboss geht ins fünfte Jahr

Die angeklagten Rocker sitzen seit 244 Verhandlungstagen vor Gericht.
Foto: Berliner Zeitung

25 Sekunden lang ist das Video aus einer Überwachungskamera. Es zeigt, wie ein Killerkommando, bestehend aus 13 teils vermummten Männern, blitzschnell in das Wettlokal „expekt.com“ in der Residenzstraße im Bezirk Reinickendorf stürmt und wieder verschwindet. Dazwischen fallen acht Schüsse, sechs davon treffen Tahir Özbek aus nächster Nähe. Der 26-Jährige stirbt kurz darauf.

Die Tat geschah am Abend des 10. Januar 2014. Die Ermittler gehen davon aus, dass Tahir Özbek regelrecht hingerichtet wurde, dass er einem Racheakt der Rockergruppe Hells Angels zum Opfer fiel. Auftraggeber soll der Rockerboss Kadir P. gewesen sein. Die mutmaßlichen Täter wurden schnell ermittelt oder stellten sich selbst der Polizei. Nachdem einer von ihnen bei der Polizei ausgepackt und auch Kadir P. schwer belastet hatte: Kassra Z., der einstige Vertraute des Rockerbosses, genannt der Perser. Er befindet sich seitdem im Zeugenschutzprogramm.

Klassenfahrtstimmung auf der Anklagebank

Der Prozess gegen Kadir P. und seine Höllenengel – auch der Perser sitzt mit auf der Anklagebank – begann am 4. November 2014. Er geht somit ins fünfte Jahr. Acht Angeklagten wird vorgeworfen, gemeinschaftlich, heimtückisch und aus niedrigen Beweggründen einen Mord begangen zu haben. Kadir P. und ein weiterer Angeklagter sollen zum Mord angestiftet haben.

244 Verhandlungstage hat es bisher gegeben, 279 Zeugen wurden vor Gericht als Zeugen gehört. Mehrere davon haben geplaudert und Kadir P. mit ihren Aussagen bei der Polizei beschuldigte. Manche stehen nun unter Polizeischutz. Bei ihnen ist auch vor Gericht die Angst, etwas gegen die Höllenengel zu sagen, noch deutlich zu spüren. Etwa wenn die Ehefrau eines solchen Belastungszeugen erklärt, sie wisse nicht, warum ihre Familie Berlin habe verlassen müssen, und sie habe ihren Mann auch nie nach dem Grund gefragt.

Es ist der bislang längste und aufwändigste Rocker-Prozess in der Berliner Justizgeschichte – und wohl auch der teuerste. Im August wurden die bisherigen Kosten für das Verfahren auf zehn Millionen Euro beziffert. Es ist ein zäher Prozess, in dem sich die zehn Angeklagten über viele Prozesstage hinweg einfallsreich die Zeit vertrieben.

Von Klassenfahrtstimmung sprachen Prozessbeobachter: Die Angeklagten plauderten miteinander, lasen Zeitung und warfen mit Papierkügelchen. Der Vorsitzende Richter musste alle zehn Minuten um Ruhe bitten. Sie beschimpften Zeugen und weigerten sich auch schon mal, aufzustehen, als die drei Beruftsrichter und die Schöffen den streng gesicherten Schwurgerichtssaal 500 betraten. Mittlerweile ist bei den Verhandlungen etwas Ruhe eingekehrt.

Auftragsmord aus Rache?

Doch es ist auch ein Prozess, der für Aufsehen sorgte, weil Ermittler des Landeskriminalamtes immer mehr in den Fokus rücken. Es muss die Frage geklärt werden: Haben sich Beamte beim Tod von Tahir Özbek schuldig gemacht? Sie kannten womöglich den Mordplan gegen ihn. Sie sollen drei Telefonate abgehört haben, aus denen offenbar klar wurde, in welcher Gefahr sich Tahir Özbek befand. Und sie schritten nicht ein.

Laut Anklage soll der heute 34-jährige Kadir P., der als Beruf Gastronom angibt, seinen Männern den Auftrag erteilt haben, Özbek zu töten. Aus Rache und um seine Macht- und Führungsposition zu verdeutlichen. Özbek, offenbar ein Sympathisant des Rockerclubs Bandidos, hatte drei Monate vor seinem gewaltsamen Tod bei einer Auseinandersetzung vor einer Diskothek in Mitte ein Hells-Angels-Mitglied mit einem Messer verletzt. Das war offenbar sein Todesurteil.

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Das Wettlokal in Reinickendorf – Ermittler sichern Spuren am Tatort.

Foto: Maurizio Gambarinipicture alliance /dpa

Tahir Özbek hatte am Abend des Tattages in seinem Stammlokal, dem Wettlokal „expekt.com“, gesessen und mit drei Männern Karten gespielt. Er wusste offenbar um die Gefahr, in der er schwebte. Deswegen trug er seit einiger Zeit stets eine kugelsichere Weste, und er war wohl auch bewaffnet. In seinem Stammlokal fühlte er sich aber sicher. Er soll an jenem Abend seine Schutzweste über die Stuhllehne gehängt haben.

Angehörige erheben Vorwürfe gegen Beamte

Özbek war laut Anklage arglos. Bis gegen 22.55 Uhr die Gruppe Vermummter in das Wettlokal marschierte. „Der Tatplan sah vor, dass der Angeklagte Recep O. das Opfer erschießen sollte“, heißt es in der Anklage.

Der 29-jährige Recep O. hat die Schüsse eingeräumt, einen Plan aber bestritten. An sich ist das schon eine Sensation. Denn eigentlich reden Rocker nicht mit Ermittlungsbehörden, das ist ein ungeschriebenes Gesetz. Recep O. hatte erklärt, aus Panik gehandelt zu haben. Im Lokal habe er geglaubt, Tahir Özbek würde eine Waffe zücken. Deswegen habe er geschossen.

Schon zu Beginn des Prozesses gab es den Verdacht, dass Beamte des Landeskriminalamtes die Tat hätten verhindern können. Doch stattdessen, so der Vorwurf der Familie des Getöteten und ihrer Anwälte, hätten sie Tahir Özbeks Tod nicht verhindert, um Kadir P. zu bekommen.

Eine Kriminalistin hatte in dem Verfahren als Zeugin ausgesagt, man habe gewusst, dass Özbek in Gefahr sei. Man habe den Mann aber im Ausland vermutet. Eine 44-jährige Ermittlerin, die für die Auswertung der Telefonüberwachung zuständig war, verweigerte gar die Aussage. Sie sah die Gefahr, sich bei einer wahrheitsgemäßen Aussage selbst zu belasten. Auch weitere ihrer Kollegen machten von ihrem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch, um sich nicht strafbar zu machen.

Fehler der Polizei könnten zu Strafnachlass für Angeklagte führen

Ende Juli dieses Jahres erhärtete sich der Verdacht gegen Ermittler des LKA – durch einen rechtlichen Hinweis von Thomas Groß, dem Vorsitzenden Richter in dem Prozess. Es sei möglich, sagte er vor der Sommerpause, dass Beamte bewusst keine ausreichenden Gegenmaßnahmen ergriffen, um Tahir Özbek zu schützen. Damit, so Groß, sei es möglich, dass die Ermittler den Tod des Mannes billigend in Kauf nahmen.

Die Staatsanwaltschaft sah sich nach diesem Hinweis genötigt, zu erklären, dass man bereits im Februar dieses Jahres aufmerksam geworden sei. Da habe ein Polizeizeuge vor Gericht „in seltener Klarheit die fehlerhaft unterlassenen Ermittlungen aufgelistet“, sagte Oberstaatsanwalt Sjors Kamstra, der in dem Prozess die Anklage vertritt.

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Rocker demonstrieren im September gegen das Verbot von Vereinsabzeichen. Organisiert wurde die Protestfahrt von den Hells Angels. Foto: Paul Zinken/picture alliance/dpa

Kamstra musste zugeben, dass Özbek nicht gewarnt worden sei und die Ermittler auch die mutmaßlichen Täter nicht aufgesucht hätten, um sie von der Tat abzuhalten. Er könne sich aber nur schwer vorstellen, dass die Ermittler Tahir Ötzbek geopfert hätten, um Straftäter zu überführen. Derzeit laufen die Ermittlungen gegen die drei Kriminalbeamte noch. „Sie hängen natürlich vom Ausgang des Prozesses ab“, sagt Martin Steltner, der Sprecher der Staatsanwaltschaft.

Doch allein wenn das Gericht die Möglichkeit erwägt, dass Kriminalbeamte keine ausreichenden Maßnahmen zum Schutz Ötzbeks ergriffen haben, dann kann es im Urteil gegen die Rocker eine sogenannte Vollstreckungslösung geben – das bedeutet, die Angeklagten bekämen aufgrund der Fehler der Polizei einen Strafnachlass.

Vertrauen in den Rechtsstaat beschädigt

Rechtsanwalt Mehmet Daimagüler vertritt die Eltern von Tahir Özbek, die in dem Prozess Nebenkläger sind. „Die lange Verhandlung ist eine große Belastung für meine Mandanten. Vor allem, weil die Staatsanwaltschaft über Jahre hinweg sehr schmallippig war, wenn es um die Mitverantwortung von Polizisten ging“, sagt er der Berliner Zeitung.

Die Anwälte der Nebenklage hätten vier Jahre lang mantramäßig immer wieder gefragt, wann die Staatsanwaltschaft gedenke, die Ermittlungen gegen Beamte aufzunehmen. „Sie hat stets empört reagiert“, sagt der Anwalt. Erst, als die Kammer diesen rechtlichen Hinweis gegeben habe, seien die Ermittlungen ins Rollen gekommen. „Gegen so wenige Beamte wie möglich, nämlich drei“, so Daimagüler.

Dabei habe man 19 Beamte namentlich gemacht, die den Mordplan kannten. „Die wussten alles, unter anderem aus Telefonüberwachungsmaßnahmen.“, sagt er. Deswegen habe es auch Überlegungen gegeben, strafrechtlich gegen die Staatsanwaltschaft vorzugehen – wegen des Verdachts der versuchten Strafvereitelung im Amt.

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Semiya Özbek zeigt zu Prozessbeginn ein Bild ihres getöteten Sohnes.

Foto: Matthias Balk/picture alliance/dpa

„Die Frage ist doch, ob Tahir Özbek noch leben würde, wenn der Staat seinen Aufgaben gerecht geworden wäre, seine Bürger zu schützen“, erklärt Daimagüler. Wenn Kriminalbeamte Tarik Özbek im Ausland vermuteten, dann hätten sie doch einfach bei ihm oder seinen Eltern klingeln und fragen können, sagt der Anwalt. Es habe noch nicht einmal eine Gefährderansprache bei Kadir P. und seinen Mitstreitern gegeben, niemanden, der ihm sagte: Hey, wir wissen, was ihr vorhabt.

Laut Daimagüler ist das Vertrauen von Özbeks Eltern in den Rechtsstaat arg beschädigt. „Sie haben gegen das Land Berlin klagen müssen, weil es ihnen mit haltlosen Argumenten die ihnen zustehende Opferrente verweigerte“, erzählt der Anwalt. Sie hätten gewonnen. „Das ist so erbärmlich, weil das Land Berlin eine Mitschuld am Tod von Tahir Özbek trägt.“

Befragung via Skype

Wenn am Donnerstag das Verfahren im Schwurgerichtssaal 500 des Kriminalgerichts nach vierwöchiger Pause weitergeht, dann werden alle zehn Angeklagten aus der Untersuchungshaft vorgeführt. Denn am bisher letzen Verhandlungstag, am 18. Oktober dieses Jahres, lehnte die Kammer die Anträge auf Haftentlassung für vier Angeklagte ab. Die Männer hatten im Prozess ihr Schweigen gebrochen und erklärt, von einem Mordplan gegen Tahir Özbek nichts gewusst zu haben. Es sei immer darum gegangen, eine Ansage zu machen und dem Mann höchstens eins „auf die Fresse“ zu geben.

Die Kammer sah in diesen Behauptungen keinen Beweiswert, zudem seien die Aussagen in zentralen Punkten lückenhaft und unplausibel. Zwei der Männer hätten sich auch erst am 234. und am 242. Verhandlungstag zu den Vorwürfen geäußert – und damit die Möglichkeit gehabt, ihre Aussagen den Angaben von Zeugen anzupassen.

Und noch etwas beschloss die Kammer. Sie wird Ibrahim K., einen mutmaßlichen Mittäter anhören – via Skype, ein Novum am Berliner Kriminalgericht. K. war zu seiner Zeugenaussage vor Gericht im September dieses Jahres nicht erschienen. Er ist in der Türkei untergetaucht. Über einen Anwalt ließ er mitteilen, er sei nicht bereit nach Deutschland zu kommen – auch nicht unter Zusicherung des freien Geleits. K. wolle nur via Skype reden.

Ein Ende des Mammutprozesses ist derzeit noch nicht in Sicht. Bislang ist das Verfahren bis April nächsten Jahres terminiert.

Der öffentliche Prozess wird am Donnerstag um 9.15 Uhr im Saal 500 des Kriminalgerichts Moabit in der Turmstraße 91 fortgesetzt.

Quelle: Berliner Zeitung

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