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Dez 21

Unzulässigkeit der AfD-Flüchtlingsklage Karlsruhe und die formalen Zwänge

picture alliance/Michael Kappeler/dpa

Wenn das BVerfG Stellung nehmen will, dann tut es das auch. Dass es sich im Streit um die Flüchtlingspolitik hinter der Unzulässigkeit der AfD-Anträge versteckte, war feige und nicht sachdienlich, findet Christian Rath.

Es gibt wohl kaum einen Verfassungskonflikt, der Deutschland derzeit so spaltet wie die Vorwürfe gegen die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung. Bei jeder Gelegenheit betont die Alternative für Deutschland (AfD), dass die Bundesregierung das Recht breche. Sie spricht von „Hochverrat“ und vom „Widerstandsrecht“. Dabei steht sie mit ihrer Fundamentalkritik nicht allein. Der amtierende Innenminister Horst Seehofer sprach im Februar 2016 von der „Herrschaft des Unrechts“. Sogar ehemalige Verfassungsrichter wie Udo di Fabio und Hans-Jürgen Papier kritisieren die Bundesregierung verfassungsrechtlich.

Horst Seehofer hatte in seiner Zeit als bayerischer Ministerpräsident eine Verfassungsklage Bayerns angedroht, dann aber nie eingereicht. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat deshalb bisher noch nie zu diesen Fragen Stellung genommen.

Endlich eine Gelegenheit

Die Möglichkeit eröffnete sich jedoch, als im Mai 2018 die AfD-Fraktion im Bundestag eine Organklage erhob. Die AfD wollte erreichen, dass der Verzicht auf die Zurückweisung von Flüchtlingen an den deutschen Außengrenzen beanstandet wird. Die AfD machte dabei in Prozessstandschaft Rechte des Bundestags geltend. Der Bundestag hätte, so ihre Begründung, die Nicht-Zurückweisung per Gesetz beschließen müssen, weil sie eine Missachtung von § 18 Asylgesetz darstelle, der solche Zurückweisungen vorsehe. Außerdem sei die Veränderung der Bevölkerungszusammensetzung so wesentlich, dass hierfür ein Gesetz, etwa ein Migrationsverantwortungsgesetz, erforderlich wäre.

Am Dienstag hat der Zweite Senat des BVerfG diese Organklage der AfD-Fraktion für unzulässig erklärt. Die AfD habe das Organklageverfahren missbraucht, um die Rechtstreue der Bundesregierung überprüfen zu lassen. Es sei ihr nicht um Rechte des Bundestags gegangen, denn sie habe selbst eingeräumt, dass sie „am allerwenigsten“ einem Gesetz zur angeblich erforderlichen Legalisierung des illegalen Zustandes zustimmen würde.

Dabei nahm das Gericht zu den von der AfD inhaltlich aufgeworfenen Fragen in keiner Weise Stellung. Es ist deshalb weder der Vorwurf ausgeräumt, dass die Regierung seit Jahren das Recht breche noch dass sie den Bundestag dabei in verfassungswidriger Weise übergehe.

Die von der Mehrheit der Asylrechtler vertretene Gegenposition lautet, dass hier die EU-Dublin-III-Verordnung Vorrang habe. Danach müssten Antragssteller zunächst ins Land gelassen werden, um festzustellen, welcher EU-Staat für das Asylverfahren zuständig ist. Die Bundesregierung hätte demnach rechtskonform gehandelt, als sie ab 2015 die Grenzen für Flüchtlinge nicht schloss. Ein legalisierende Gesetz des Bundestags wäre ebenfalls nicht erforderlich. Ob diese Sichtweise richtig ist, hat bisher noch kein Gericht autoritativ festgestellt.

Die Richter des BVerfG scheinen sich der Solidität der demokratisch-rechtsstaatlichen Ordnung in Deutschland sehr gewiss zu sein, um die Gelegenheit für eine derartige Klarstellung so einfach verstreichen zu lassen. Max Steinbeis hat den Unzulässigkeitsbeschluss im Verfassungsblog mit guten Argumenten kritisiert. Er fragte sich zu Recht, „ob wir das nicht noch bereuen werden“.

In sozialen Netzwerken wurde Steinbeis vorgeworfen, dass für Wünsche und Erwartungen an das oberste deutsche Gericht kein Raum sei, wenn eine Klage nun mal unzulässig sei.

So einfach ist es aber nicht. Zum einen ist die AfD-Klage nicht eindeutig unzulässig. Zum anderen finden die Richter, wenn sie wollen, stets einen Weg, verfassungsrechtliche Hinweise zu geben.

Unzulässigkeit fraglich

Wesentliches Argument für die Unzulässigkeit der AfD-Klage war, dass sie an der per Klage eingeforderten Gesetzgebung in Wirklichkeit gar nicht interessiert gewesen sei. Dieses Argument kann nicht überzeugen und entspricht jedenfalls nicht der bisherigen BVerfG-Rechtsprechung.

Wenn eine Fraktion in Prozessstandschaft Rechte des Bundestags wahrnimmt, dann geht es ihr typischerweise darum, ein Projekt zu verhindern oder zu hemmen. Sie macht die Rechte des Bundestags also nicht geltend, um als Fraktion mitgestalten zu können, sondern um den aus ihrer Sicht rechtswidrigen Zustand anzuprangern.

Bestes Beispiel: Die Grünen waren große Gegner der Nato-Nachrüstung. Sie erhoben 1983 eine Organklage, weil die Bundesregierung der Stationierung von US-Mittelstreckenraketen (Pershing-2-Raketen) ohne Gesetz zugestimmt hatte. Natürlich wollten die Grünen am allerwenigsten einem derartigen Gesetz zustimmen (sie hätten es sogar für verfassungswidrig gehalten). Es ging ihnen nur darum, das vermeintliche Unrecht der Regierung feststellen zu lassen. Dennoch war die Organklage zulässig (Urt. v. 18.12.1984, Az. 2 BvE 13/83, Rz 81).

Im AfD-Fall ist das BVerfG also argumentativ von seiner eigenen Linie abgewichen und scheint die Organklage in Prozesstandschaft nur noch der konstruktiv-mitwirkungsbereiten Opposition vorbehalten zu wollen. Eine so weitgehende Verengung des Zugangs zum Verfassungsgericht hätte aber zumindest kenntlich gemacht werden sollen. Oder anders gesagt: Unter Anwendung der Maßstäbe aus der Pershing-Rechtsprechung hätte die AfD-Klage nicht (so einfach) als unzulässig abgetan werden können.

Dass die AfD bei dieser Klage ein Zulässigkeits-Problem hat, kommt allerdings nicht überraschend. Jedoch gingen Beobachter (und auch die Fraktion selbst) von einem anderen Problem aus. Denn eigentlich müssen Organklagen binnen sechs Monaten nach dem gerügten Ereignis eingelegt werden. Die große Flüchtlingswelle war jedoch schon 2015, da war die AfD noch gar nicht im Bundestag. Sie konnte die Organklage deshalb erst 2018 einlegen. Allerdings argumentierte sie, der rechtswidrige Zustand an den Grenzen halte ja weiter an, deshalb sei auch die Sechs-Monats-Frist nicht abgelaufen, sondern habe erst mit dem Einzug der AfD in den Bundestag begonnen. Ob die Richter dieses Argument akzeptiert hätten, ließen sie ausdrücklich offen (Rz 28). Man muss das wohl so werten, dass sie das Argument nicht für abwegig hielten. Damit ist aber auch der Hinweis abgeschnitten, dass die AfD-Klage auch bei Beachtung des Pershing-Maßstabs unzulässig gewesen wäre.

Zulässigkeit ist relativ

Doch selbst wenn die Richter eine Organklage für unzulässig halten, hindert es sie nicht daran, zur Begründetheit Stellung zu nehmen. Man mag das für unsystematisch halten, aber wenn das Verfassungsgericht Wichtiges zu entscheiden hat, dann findet es einen Weg.

Frappierendes Beispiel: Im Mai 2010 entschied das Bundesverfassungsgericht über eine Organklage der Grünen gegen den Bundeswehreinsatz beim G-8-Gipfel in Heiligendamm. Die Grünen reklamierten, dass die Bundeswehr auch bei Inlandseinsätzen eine Parlamentsarmee sei und monierten, dass hier eine vorherige Zustimmung des Bundestags gefehlt habe. Der Zweite Senat des BVerfG merkte an, die Grünen könnten sich hier nicht auf Rechte des Bundestags berufen. Der Organstreit sei „keine objektive Beanstandungsklage“. Der Senat verzichtete jedoch einfach auf die Subsumtion zur Zulässigkeit und lehnte die Klage dann ab, weil sie „jedenfalls offensichtlich unbegründet“ sei . (Beschl. V. 04.05.2010, Az. 2 BvE 5/07). Der Trick liegt auf der Hand: Die Karlsruher Richter wollten etwas zur Begründetheit sagen, also wurde die Zulässigkeitsprüfung einfach nicht ernst genommen. Auch hier ging es um die Organklage einer Fraktion. Es ist der passende Parallelfall zur AfD-Organklage.

Dass Zulässigkeit relativ ist, hat das BVerfG auch in seinem Wunsiedel-Urteil von 2009 gezeigt. Hier ging es um die Prüfung einer Neufassung des Volksverhetzungs-Paragraphen § 130 Strafgesetzbuch. Leider starb eine Woche vor der anberaumten Urteilsverkündung der Verfassungsbeschwerdeführer. Damit war die Verfassungsbeschwerde eigentlich unzulässig geworden. Doch der Erste Senat hatte sich, um die Norm zu halten, einiges überlegt, das er unbedingt verkünden wollte. Also erklärte er, dass er wegen der „allgemeinen verfassungsrechtlichen Bedeutung“ des Falles nun trotz Versterbens des Beschwerdeführers verkünden werde. (Beschl. v. 04.11.2009, Az. 1 BvR 2150/08, Rz 44).

Wenn die Richter Bedarf an einem Fall haben, zu dem sie etwas sagen können, scheuen sie nicht einmal den Griff zu Verfassungsbeschwerden, die mangels Substanz offensichtlich ins Allgemeine Register gehören. So geschehen im März 2017 im Vorfeld des Besuchs des türkischen Ministerpräsidenten Yildirim. Ein Bürger aus der Eifel, der eindeutig nicht in eigenen Grundrechten verletzt war, hatte einen empörten Brief an das BVerfG geschrieben. Dies nahm eine Kammer des Zweiten Senats zum Anlass, der Bundesregierung zu erklären, dass türkische Minister keinen Anspruch auf Einreise nach Deutschland haben. Als Staatsorgane könnten sie sich nicht auf Grundrechte berufen (Beschl. V. 08.03.2018, 0Az. 2 BvR 483/17). Auf diesem unkonventionellen Wege nahm Karlsruhe zu einer tagespolitischen Frage Stellung, die im Vorfeld des türkischen Verfassungsreferendums gerade lebhaft diskutiert wurde. Zugleich zeigten die Richter, dass man auch bei der Begründung, warum eine Klage unzulässig ist, viel mitteilen kann.

Auch im Konflikt mit dem Europäischen Gerichtshof EuGH) haben die Richter schon zu sehr unkonventionellen Äußerungsformen gegriffen. So hatte der EuGH 2013 in seinem Akerberg Fransson-Urteil (v 26.02.2013, Az. C-617/10) den Anwendungsbereich der EU-Grundrechtecharta deutlich ausgeweitet. Das BVerfG war besorgt um die eigene Bedeutung und nahm alsbald ein beliebiges Urteil (zur Anti-Terror-Datei) zum Anlass, eine überhaupt nicht naheliegende Vorlage an den EuGH zu prüfen. Dabei wurde dem EuGH „im Sinne eines kooperativen Miteinanders“ mitgeteilt, dass man mit seinem Urteil überhaupt nicht einverstanden sei und dieses nur akzeptieren werde, wenn ihm minimale Bedeutung zukommt (Urt. v. 24.04.2013, Az. 1 BvR 1215/07, Rz 91).

Die Richter hätten auch eine Postkarte oder ein Flugblatt schreiben können. Aber Verfassungsrichter sprechen eben durch ihre Urteile. Und wo Redebedarf besteht, da finden sie auch einen Weg.

Das alles ist natürlich nicht zwingend und man muss das nicht so machen. Es sei nur erwähnt, um der Vorstellung entgegenzutreten, dass der Zweite Senat durch die Zwänge des Verfassungsprozessrechts an einem verfassungs- und staatspolitisch sinnvollen Umgang mit diesem Konflikt gehindert wäre. Die Richter geben ständig Beispiele, dass sie mit prozessualen Regeln flexibel umgehen. Sie müssen sich dies auch vorhalten lassen, wenn sie sich hinter angeblichen formalen Zwängen verstecken

Quelle: lto

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