Tripolis/Rom – Das Mittelmeer liegt ruhig in diesen Sommertagen, es gibt kaum Wellen zwischen der libyschen Küste und Italien. Die Wetterlage ist stabil. Normalerweise müssten jetzt täglich überfüllte Gummiboote mit Migranten ablegen – aber in Italien kommen derzeit kaum Flüchtlinge an.
Im Vergleich zum Vorjahr sind die Zahlen im August um knapp 90 Prozent zurückgegangen. Während die libysche Küstenwache und die europäische Grenzschutzagentur Frontex die Zahlen vor allem als Erfolg der Behörden auf See verkaufen, sehen Experten die Gründe an der libyschen Küste selbst: Eine neue Miliz soll die Seiten gewechselt haben. Über die Gründe und die Rolle Italiens wird spekuliert.
«Wir wissen aktuell nicht, was die Gründe für den Rückgang sind», sagt Christine Petré, Sprecherin der Internationalen Organisation für Migration (IOM) für Libyen. Aber vor allem im Juli seien die Zahlen derjenigen Flüchtlinge, die in libyschen Gewässern von der Küstenwache aufgegriffen und zurückgebracht worden seien, stark zurückgegangen. «Es muss damit zu tun haben, dass weniger Flüchtlinge von der libyschen Küste ablegen.»
Die Kleinstadt Sabratha ist einer der Hauptausgangspunkte für Flüchtlinge in Libyen. Die Stadt liegt rund 70 Kilometer westlich der Hauptstadt Tripolis in Richtung der tunesischen Grenze. Italien und Europa sind hier besonders nah. Die Kulisse eines monumentalen, antiken Theaters prägt die Küstenlinie.
«Seit einiger Zeit gibt es eine neue bewaffnete Gruppe in der Stadt, die offenbar dafür sorgt, dass die Schmuggler nicht mehr ablegen», sagt Mattia Toaldo, Libyenexperte des European Council for Foreign Relations (ECFR), einer europäischen Denkfabrik. Es gebe Hinweise darauf, dass ein in der Region mächtige Milizen- und Schmuggelchef die Seiten gewechselt habe, sagt Toaldo. «Vielleicht hofft er, mehr Einfluss zu bekommen, wenn er dafür sorgt, dass die Flüchtlinge nicht mehr ablegen.» Ähnliche Entwicklungen gab es im vergangenen Jahr bereits in Sabrathas Nachbarstadt Suwara, als eine Art Bürgermiliz die Kontrolle in der Stadt übernahm und die Stadt so weit es ging von Menschenschmugglern befreite.
In Italien freut sich die sozialdemokratische Regierung über die aktuellen Zahlen – auch vor dem Hintergrund, dass bis spätestens im kommenden Frühjahr gewählt werden muss. Und Migration ist dabei das Topthema, das rechten und ausländerfeindlichen Parteien Zulauf bringt. «Wir sind noch in einem langen Tunnel. Aber zum ersten Mal habe ich begonnen, Licht am Ende des Tunnels zu sehen», sagte Innenminister Marco Minniti Mitte August. Er warnte jedoch zugleich, dass das «epochale» Migrationsphänomen nicht gelöst sei.
Der Rückgang der Flüchtlingszahlen wird auch auf das Engagement Italiens an Land zurückgeführt. Es sei sehr wichtig gewesen, auf «der anderen Seite» des Mittelmeers zu intervenieren, sagte Minniti. «Wir haben uns auf Libyen konzentriert, es schien sehr schwierig, aber heute scheint es, als würde sich etwas bewegen.»
Unter anderem unterstützt Italien libysche Kommunen. Immer wieder werden in Rom Delegationen mit Bürgermeistern und lokalen Politikern aus allen Regionen Libyens empfangen. Auch Minniti war deshalb schon in Libyen. Den Kommunen soll mehr finanzielle Hilfe zukommen. Man wolle vor dem Hintergrund von Schlepperei Alternativen für Wachstum und Entwicklung bieten, hieß es jetzt in einer Erklärung.
Ein Ansatz, dessen grundsätzliche Überlegung in Europa Schule macht, wie ein Migrationsgipfel europäischer und afrikanischer Staaten in Paris zeigte. Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte schon zuvor betont, es müssten etwa alternative Einkommensquellen für Schleuser in der nigrischen Stadt Agadez gesucht werden, um gegen illegale Migration vorzugehen. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hatte auch die Regierungschefs Italiens und Spaniens eingeladen. Aus Afrika waren die Staatschefs des Nigers und des Tschads dabei, die ebenfalls an der Migrationsroute nach Europa liegen – und der Chef der international anerkannten libyschen Übergangsregierung, Fajis al-Sarradsch. Das Ziel: illegale Migration nach Europa eindämmen – mit einer engeren Zusammenarbeit mit den Transitländern.
Vor einigen Tagen berichtete der Gemeinderat der Küstenstadt Sabratha stolz über neue Hilfslieferungen aus Italien. Ein C-130 Transporter der Luftwaffe stand mit geöffneter Ladeluke auf einem Flugfeld in Libyen, davor Vertreter des Gemeinderates. In der Ladeluke stapelten sich Kartons, in denen Medikamente für das Krankenhaus sein sollen. Auch der Fernsehsender der Nachbarstadt Suwara berichtete vor einigen Tagen über neue Hilfslieferungen aus Italien.
«Das ist schon länger die Strategie Italiens, die Kommunen dadurch zu unterstützen», sagt Libyen-Experte Mattia Toaldo vom ECFR. «Traditionell hat Italien gute Geheimdienstnetzwerke in Libyen mit guten Kontakten zu Bürgermeistern.» Wenn das bedeute, dass weniger Flüchtlinge im Mittelmeer ertrinken, halte er diese Strategie für sinnvoll. «Die Frage ist aber, was mit den Schmugglern passiert und ob sie nicht – wie schon einmal – andere Startpunkte suchen.»
Die Entwicklung bedeutet aber auch, dass die Migranten im Chaos des Bürgerkriegslandes und in teils unmenschlichen Zuständen festsitzen. Zwei Menschenrechtsbeauftragte der Vereinten Nationen schlugen angesichts der Entwicklungen kürzlich Alarm: «Die Lösung kann nicht sein, den Zugang zu internationalen Gewässern zu verhindern», kritisierten Felipe González Morales und Nils Melzer in einem Bericht. Die beiden Sonderberichterstatter drückten ihre Sorgen aus, dass die EU versuche, die europäischen Grenzen nach Libyen zu verlagern.
Ein Expertengremium des UN-Sicherheitsrates legte ebenfalls vor kurzem einen fast 300 Seiten starken Bericht vor und zeigte darin auch die Verwicklungen zwischen Milizen, Schmugglern und der von europäischen Staaten unterstützten libyschen Küstenwache auf.
«Italien und die EU dürfen sich an Menschenrechtsverletzungen nicht mitschuldig machen», sagt die Fraktionsvorsitzende und migrationspolitische Sprecherin der Grünen im Europäischen Parlament, Ska Keller. «Italien muss offen legen, ob es Milizen unterstützt, die das Auslaufen von Flüchtlingsbooten verhindern, und ob EU-Gelder dabei im Spiel sind.»
Angesichts des Chaos in Libyen und der hunderten rivalisierenden Milizen fragen sich sowohl Experten als auch EU-Institutionen, wie lange die Überfahrten Richtung Europa noch auf solch einem niedrigen Stand bleiben.