Hannover. Ein mutmaßlicher Räuber stürzt beim Fluchtversuch aus dem siebten Stock des Amtsgerichts Hameln ab – seine Angehörigen randalieren danach vor dem Gebäude und vor der Klinik, wo der 26-Jährige später stirbt. Die Eskalation der Gewalt nach dem tragischen Tod des jungen Mannes wird seit Montag vor dem Landgericht Hannover aufgeklärt.
Der Prozess gegen den Bruder, die Mutter und vier weitere Verwandte des Verunglückten startet unter verschärften Sicherheitsvorkehrungen. Vier Einsatzfahrzeuge stehen vor dem Gebäude. Justizbeamte, die aussehen wie Türsteher, sichern den Saal. Befürchtet werden Störungen der Verhandlung durch Mitglieder des Familien-Clans, jedoch bleiben die Zuhörerplätze zumindest beim Prozessauftakt so gut wie leer.
Den sechs Angeklagten im Alter zwischen 27 und 50 Jahren werden in verschiedener Beteiligung unter anderem Bedrohung, Körperverletzung, Beleidigung und Landfriedensbruch vorgeworfen. Ihre Krawalle am 14. Januar 2015 hatten die Fachwerkstadt im Weserbergland erschüttert. Hamelns Landrat Tjark Bartels (SPD) sprach von „hemmungsloser Gewalt“, laut Anklage wurden insgesamt 24 Polizisten und sechs Unbeteiligte unter anderem durch Würfe mit Pflastersteinen und Tränengas verletzt. Ein Beamter erlitt eine offene Platzwunde und einen Nasenbeinbruch, ein anderer eine Verletzung am Bein. Bereits unmittelbar nach dem Todessturz sollen Polizei und Rettungskräfte an der Unglücksstelle attackiert worden sein.
Bei der Randale vor der Klinik zählten die Beamten rund 30 Mitglieder der Großfamilie, teils aus anderen Bundesländern angereist. Der Vorsitzende Richter Stefan Joseph wirbt zum Auftakt der Verhandlung am Montag um Vertrauen bei den Angeklagten. Ihm habe beim Lesen der Akten der Atem gestockt, sagt Joseph. Mutter und Bruder hätten den Tod des 26-Jährigen aus nächster Nähe erleben müssen.
„Wir wissen, welche Tragik das für Ihre Familie bedeutet“, betont der Richter. Aber es sei auch klar, dass nicht in Ordnung war, was danach passierte. Der angeklagte Bruder des Toten soll bereits einen Tag vor dem tödlichen Fluchtversuch versucht haben, seinen wegen eines Tankstellen-Überfalls in Aerzen festgenommenen Bruder aus einem Streifenwagen zu befreien, was jedoch misslang. Dem 27-Jährigen werden insgesamt sechs, seiner 50 Jahre alten Mutter zwölf Straftaten vorgeworfen.
Verfahren könnte sich verkürzen
Vor Gericht wirkt die schwarz gekleidete, verschleierte Mutter in sich gekehrt, seit dem traumatischen Verlust ihres Sohnes ist sie ihrem Verteidiger zufolge auf Medikamente angewiesen. Am 14. Januar war sie die hochaggressive Antreiberin der Gruppe, wie Staatsanwalt Jörg Hennies schildert. Sie habe Polizisten als „Hurensöhne, Schweine, Nazis und Hitlersöhne“ beschimpft. Vier Beamten soll sie gedroht haben: „Ich zünde euch an, ihr Schweine!“
Die Mutter habe wider besseres Wissens das Gerücht verbreitet, ihr Sohn sei von Beamten aus dem Fenster des Amtsgerichts gestoßen worden, sagt Hennies. Nach seinem Tod habe sie auf Rache gedrungen: „Hameln, die Richterin und das Krankenhaus sollten brennen.“ Für den Prozess, der die unübersichtlichen Tumulte aufklären soll, sind Termine bis September angesetzt. Allerdings könnte sich das Verfahren deutlich verkürzen. Am Montag führen alle Prozessbeteiligten Verständigungsgespräche. Im Raum stehen Bewährungsstrafen für die Angeklagten, sollten sie sich geständig einlassen.