Dehydriert, übermüdet, total unterkühlt: Immer öfter zieht die Bundespolizei im oberbayerischen Raubling total erschöpfte Flüchtlinge aus Güterzügen, die in Italien gestartet sind. Die Polizisten und auch Rosenheimer Ärzte, die die Flüchtlinge anschließend untersuchen, befürchten noch Schlimmeres für den Herbst.
Die Migranten, fast ausschließlich Männer, verstecken sich auf dünnen Lkw-Aufliegern direkt hinter den Rädern der Laster. Zwischen den Aufliegern klaffen große Löcher. Eine kleine, unachtsame Bewegung oder ein Rumrollen im Schlaf kann einen Sturz ins Gleisbett bedeuten, der bei Geschwindigkeiten von bis zu 140 km/h sofort tödlich wäre. In Österreich und Bayern sind bereits zwei Flüchtlinge dabei ums Leben gekommen.
Bundespolizei: Die meisten Flüchtlinge springen in Bozen auf die Güterzüge
Waren es in der ersten Jahreshälfte noch etwa 20 Flüchtlinge pro Monat, die bei den Stichproben-Kontrollen in Raubling entdeckt wurden, stieg die Zahl im Juli sprunghaft auf 100 an, im August waren es 80. Eine Steigerung ums Vier- bis Fünffache, die auf den verstärkten Flüchtlingsstrom aus Afrika zurückzuführen ist. Einige Flüchtlinge sind nach Informationen der Bundespolizei aus Rosenheim bereits in Verona auf die Züge gesprungen. Die meisten würden sich jedoch in Bozen in den offenen Waggons verstecken.
Caritas: Südtiroler Regierung könnte Lage leicht entschärfen
Die Caritas der Diözese Bozen-Brixen erhebt nun schwere Vorwürfe gegen die Südtiroler Landesregierung. Denn nach ihrer Ansicht könnte diese Gefahr zumindest gemindert werden, wenn sich die Landesregierung offen dafür zeigen würde, nicht nur Kindern und Frauen unter den illegalen Migranten eine Unterkunft zu bieten, sondern auch den Männern. 240 von ihnen sollen sich nach Angaben des Caritas-Direktors Franz Kripp derzeit im Bozener Stadtgebiet aufhalten. Sie kampieren auf Plätzen und am Stadtrand. Die Dunkelziffer ist vermutlich weit höher.
„Unterkünfte auch für illegale Flüchtlinge extrem wichtig“
„Einige haben Angst vor den Behörden und meiden den offiziellen Kontakt, andere wollen es schlicht und einfach auf eigene Faust versuchen, selbst wenn sie schon einen Asylantrag in Italien gestellt haben“, sagte Kripp FOCUS Online. Um zu verhindern, dass diese Flüchtlinge in Bozen auf die Güterzüge springen, sei jedoch die Unterbringung in offiziellen Unterkünften extrem wichtig. Denn der persönliche Kontakt sei die beste Voraussetzung dafür, die Migranten von dieser Idee abzubringen. „Viele von ihnen denken, dass eine Zugfahrt nach Deutschland, die ein paar Stunden dauert, weniger riskant ist als die Reise in einem Schlauchboot von Afrika nach Italien. Sie unterschätzen die Gefahr.“
Luca Critelli, in der Landesverwaltung Südtirol als Abteilungsleiter für das Ressort Familie, Soziales und Gemeinschaft und auch für Flüchtlinge zuständig, sieht die Regierung der Provinz hingegen nicht in der Pflicht. „Die Personen, die das Risiko auf sich nehmen, auf die Güterzüge zu springen, haben das klare Ziel, ein bestimmtes Land zu erreichen. Sie haben kaum Interesse, in Italien einen Asylantrag zu stellen, denn das hätten sie schon bei der Ankunft in Süditalien tun können“, sagte Critteli FOCUS Online.
Bozener Regierung: „Gefährliche Güterzugfahrten zu verhindern ist Aufgabe der Polizei“
Für Critelli ist dies ein ausreichender Grund, weswegen „die Situation in Südtirol recht wenig mit den lokal verfügbaren Aufnahmemöglichkeiten zu tun“ habe. Die gefährlichen Güterzugfahrten könnten nur durch Kontrollen unterbunden werden, fuhr Critelli fort. „Das obliegt den Polizeibehörden. Die Landesverwaltung ist keine Polizeibehörde.“ Zudem hielten Critellis Angaben zufolge die meisten Güterzüge nicht in Südtirol, die Migranten sprängen also schon vorher auf die Züge.
Kripp verweist auf hilfsbereitere Österreicher
Derzeit halten sich in Südtirol offiziell 1700 Flüchtlinge in rund 20 verschiedenen Unterkünften auf. Franz Kripp lässt Critellis Bemerkung, Südtirol erfülle damit die Flüchtlingsquote, die ihr von der Regierung in Rom zugewiesen werde, allerdings nicht gelten. Und zwar sowohl, was die Gefahr der Güterzugreisen betrifft als auch die allgemeine Bereitschaft, allen Flüchtlingen zumindest eine kostenlose Unterkunft, Verpflegung und eine adäquate Betreuung zu bieten. Kripp verweist dabei auf die Nachbarregion nördlich des Brenners: „Tirol beherbergt zurzeit 5000 Flüchtlinge. Ich denke, die Provinz Südtirol könnte locker helfen, wenn sie wollte – und damit leicht das Problem der Güterzugflüchtlinge entschärfen.“
Eine Sache, die uns Mut macht
Experten der Stiftung Wissenschaft und Politik haben einen Ansatz der EU zur Zusammenarbeit mit Herkunfts- und Transitstaaten gelobt. Im Rahmen des Khartum-Prozesses will die EU die Fluchtursachen in Ostafrika und am Horn von Afrika reduzieren. Ein Element hierfür ist das im April 2016 für einen Zeitraum von zunächst drei Jahren eingerichtete Programm „Better Migration Management“. Viele der Aktivitäten tragen dazu bei, dass die Versorgung von Flüchtlingen und Migranten gesichert werden oder deren Rechte gestärkt werden sollen, so das Urteil der SWP. Einige Beispiele des Programms:
- Dschibuti: mobile Teams zur Gesundheitsversorgung von schutzbedürftigen Flüchtlingen und Migranten
- Äthiopien: Planung eines sicheren Hauses für minderjährige Opfer von Menschenhandel
- Eritrea: Aus- und Weiterbildung von Ermittlern, Staatsanwälten und Richtern zur Verfolgung von Menschenhandel
- Sudan: Untersuchung des rechtlichen Reformbedarfs
- Kenia: Ausbildung von Verwaltungsmitarbeitern