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Feb 16

Das Rätsel um einen Flüchtling, dem Deutschland Schutz gewährt, obwohl er ein Kind überfiel


Der Angeklagte Chalid M. neben seinem Verteidiger im Gerichtssaal in Tübingen
© Patrick Junker

Bei Tübingen ist eine Zehnjährige attackiert worden. Der Täter hatte kurz zuvor den Flüchtlingsstatus erhalten – trotz krimineller Vorgeschichte und Zweifeln an seiner Herkunft.

Der 22. Juni ist einer der heißesten Tage des vergangenen Sommers. Die Wiesen vor Tübingen sind frisch gemäht, Harald D., 71, macht eine Radtour nach Rottenburg. Beim Friedhof Hirschau biegt er um eine Kurve, als er ein Kreischen hört. Übermütige Kinder, denkt er, doch je näher er kommt, desto mehr irritiert ihn die Tonlage. „Da rief jemand in höchster Not“, wird er später sagen.

Hinter der nächsten Biegung sieht Harald D. einen Mann, der bäuchlings auf einem Heuhaufen am Wegrand liegt. Unter ihm windet sich ein schreiendes Kind. D. greift nach seinem schweren Fahrradschloss, er ruft: „Lass das Mädle in Ruhe!“ Im gleichen Moment biegt ein weiterer Radfahrer um die Kurve.

Joachim S., 51, ist Polizeibeamter, er überwältigt den Angreifer. Das Kind rappelt sich auf, es hat Schürfwunden und blaue Flecken an Armen und Beinen und wirkt völlig verstört. „Wie versteinert“, so beschreibt eine Kripobeamtin seinen Zustand später.

Die Attacke hat viele, weit über Tübingen hinaus, aufgebracht

Marie* ist zehn Jahre alt, sie besucht ein Gymnasium in Tübingen. Der Mann sei ihr auf dem Fahrrad entgegengekommen, habe sie gerammt und zu dem Heuhaufen gezerrt, sagt sie der Polizei. Er habe sich auf sie geworfen und sie an Brust und Unterleib berührt. Die beiden Radfahrer waren ihre Rettung.

Die Attacke auf Marie hat viele aufgebracht, weit über Tübingen hinaus. Weil es immer furchtbar ist, wenn so etwas passiert. Weil es am helllichten Tag geschah, an einem Weg, auf dem auch andere Kinder zur Schule fahren. Und weil der Täter einer ist, der trotz krimineller Vergangenheit und fragwürdiger Angaben als Flüchtling anerkannt wurde. Die Geschichte des Chalid M.*, so zeigt sich nach der Festnahme und später im Prozess, ist auch eine Geschichte über deutsche Behörden und Gerichte, über einen Mangel an Zeit und an Kommunikation, über Entscheidungen, die viele Bürger nicht nachvollziehen können und die der AfD die Wähler zutreiben.

Hier, am Rand des Radwegs zwischen Tübingen und Hirschau, ging Chalid M. im Juni 2017 auf das Mädchen los

Hier, am Rand des Radwegs zwischen Tübingen und Hirschau, ging Chalid M. im Juni 2017 auf das Mädchen los

Er stamme aus einer palästinensischen Familie, die im Flüchtlingsviertel Jarmuk am Rande von Damaskus gelebt habe, erzählte der 37-Jährige sechs Monate nach der Tat vor dem Tübinger Landgericht. Nach acht Jahren Schule habe er Stuckateur gelernt und seinen Militärdienst abgeleistet. 2010 sei er gemeinsam mit seiner palästinensischen Frau und den beiden Söhnen zu Verwandten nach Libyen gegangen, weil die Situation auch ein Jahr vor Ausbruch des Bürgerkriegs schon unsicher geworden sei. Überprüfbar ist das alles nicht.

2014 tauchte M. in Deutschland auf, allein und ohne Pass. Wo seine Papiere geblieben seien, dazu machte er widersprüchliche Angaben. Mal hieß es, sie seien bei einem Raketentreffer auf sein Haus vernichtet worden, dann wieder, man habe ihm den Pass bei seiner Einreise nach Libyen abgenommen – von wo aus er mit einem Schlepper über Italien nach Karlsruhe gekommen sein will. Sicher ist: Im März 2014 stellte er einen Asylantrag.

Chalid M. lebte in einer Flüchtlingsunterkunft in Rottenburg, bekam ein Bett sowie 330 Euro monatlich. Und war unzufrieden. Er habe Sicherheit und Arbeit gesucht, um seinen Kindern etwas bieten zu können, aber „niemand hat mir geholfen“, klagte er später vor Gericht. Von anderen syrischen Flüchtlingen sei er als Palästinenser diskriminiert worden, „alles Hunde“. Deutschland sei kalt, er fühle sich verloren, er vermisse seine Söhne.

Verurteilung wegen räuberischen Diebstahls und versuchten Raubes

Chalid M. begann einen Sprachkurs bei der Volkshochschule, brach ihn aber wieder ab. Sein aktiver Wortschatz beschränkte sich auf wenige deutsche Vokabeln, auf Wörter wie „Arbeit“ und den Satz „Ich liebe dich“. Im September 2014 wurde er in einem Kaufhaus in Rottenburg erstmals beim Stehlen erwischt. Ein Kopfhörer. Später waren es zwei MP3-Player, ein Haarschneideset. M. fiel auf, weil er betrunken die Gäste eines Restaurants anpöbelte, sich selbst der Polizei gegenüber aggressiv verhielt.

Kurz darauf ging er einen Schritt weiter: Er attackierte eine Radfahrerin, versuchte, ihr das Handy wegzureißen. Als sich die 16-Jährige wehrte, biss er ihr in die Hand. Im Dezember 2014 hielt er eine junge Frau am Gepäckträger ihres Fahrrads fest. Sie floh in eine Tankstelle, M. wurde festgenommen. Einem Polizisten gegenüber sagte er: „Mir fehlte Sex, mir fehlte was weiß ich.“ Als er sich Anfang 2015 wegen der Überfälle und der Diebstähle vor dem Amtsgericht Tübingen verantworten musste, sprach er davon, dass er bei der zweiten Attacke betrunken gewesen sei. Die junge Frau wisse nun aber, „dass sie aufpassen muss“. Vor Leuten wie ihm. „Das war keine schlechte Lektion.“

Das Landgericht Tübingen, in dem der Fall verhandelt wurde

Das Landgericht Tübingen, in dem der Fall verhandelt wurde

Das Gericht beauftragte damals den Gutachter Hannes Moser, M. zu untersuchen. Er fragte nach M.s Fluchtgeschichte, kam zu dem Schluss, sie wirke „sehr allgemein“ und „wenig nachvollziehbar“. Auch bei der Schilderung seiner Kinder weiche Chalid M. aus. Es könne sein, so der Psychiater, dass er die Existenz der Kinder nur vortäusche, um mehr Verständnis zu bekommen. M. sei psychisch auffällig. Er zeige sich wenig betroffen und sehe keine Notwendigkeit, an sich zu arbeiten. Angesichts dieser Uneinsichtigkeit und seines Alkoholkonsums bestehe die Gefahr „weiterer vergleichbarer Taten“.

Das Amtsgericht verurteilte Chalid M. wegen räuberischen Diebstahls und versuchten Raubes im Mai 2015 zu 18 Monaten Haft, die er in voller Länge absitzen musste. Und schrieb zudem deutliche Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Mannes ins Urteil: Chalid M. sei möglicherweise „nicht die Person, für die er sich im Asylverfahren ausgibt“.

Sein Antrag beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) war zu diesem Zeitpunkt noch nicht entschieden.

Erst ein Jahr später, am 4. Mai 2016, befragte ihn ein Entscheider des Amts fast zwei Stunden lang. Auch da blieb Chalid M. bei seiner Vorgeschichte vage. Einige Fragen konnte er beantworten. Aber als er die Flagge von Syrien zeichnen sollte, wurde es die von Palästina. Von der syrischen Nationalhymne kannte er nur die erste Zeile.

Eine frühere Übersendung hätte nichts am Aufenthaltsstatus geändert

Der Entscheider wusste zu diesem Zeitpunkt nichts von der Vorstrafe des Bewerbers. Das zuständige Regierungspräsidium Tübingen informierte das BAMF erst am 17. Juni 2016 – ohne Details aus den Gerichtsakten, sondern nur mit einem Formular. Das sei so üblich, heißt es gegenüber dem stern. Eine frühere Übersendung der Unterlagen hätte nichts am Aufenthaltsstatus des Mannes geändert, so der Sprecher des Regierungspräsidiums, denn Chalid M. hätte als Syrer ohnehin nicht abgeschoben werden können.

Doch war er wirklich ein Syrer? Am 22. Juni 2016 lehnte der Entscheider den Asylantrag ab. Chalid M. bekam aber wie viele Syrer „subsidiären Schutz“. Er hatte damit die Möglichkeit, zu bleiben, solange der Krieg tobt, bekam jedoch kein darüber hinausgehendes Aufenthaltsrecht und durfte die Familie vorläufig nicht nachkommen lassen.

Das BAMF stützte sich dabei unter anderem auf die Einschätzung eines Dolmetschers, dass M. ein Palästinenser sei, der in Syrien gelebt habe. Ob der Entscheider vor seinem Votum die Gerichtsakten angefordert und gelesen hatte, ob ihm die Zweifel des Gutachters an M.s Identität bekannt waren – dazu macht das BAMF keine Angaben. Aber es ist unwahrscheinlich.

Sieben Tage nach der Entscheidung der Behörde reichte M. eine Klage gegen seinen Bescheid ein. Und wieder ging viel Zeit ins Land. Ein paar Monate später hörte er von einer anderen deutschen Stelle, dem Regierungspräsidium. Das kam noch einmal auf seine Verurteilung von 2015 zurück und erteilte ihm deshalb eine „strenge ausländerrechtliche Verwarnung“. Die hinderte M. nicht daran, wiederum einige Monate später, am 27. März 2017, angetrunken im Flüchtlingsheim zu randalieren. Er riss einen Rollladenkasten heraus und bespuckte Polizisten.

Am 12. April 2017 schließlich erteilte das Verwaltungsgericht Sigmaringen Chalid M. die ersehnte Anerkennung als Flüchtling mit unbefristetem Schutz und dem Recht, seine Familie nachzuholen. Die Begründung des Richters: Als Mann im wehrfähigen Alter und als Palästinenser sei er unkontrollierbaren Risiken und besonderer Willkür des syrischen Regimes ausgesetzt.

Kein Hinweis auf eine frühere Verurteilung

Es war eine Entscheidung von sehr vielen, die das Verwaltungsgericht Sigmaringen damals zu treffen hatte. Im Durchschnitt hat ein Richter dort täglich zwölf Asylklagen auf dem Tisch. Zwölf Schicksale, denen es gerecht zu werden gilt. Und Sigmaringen ist keine Ausnahme. Allein in den ersten neun Monaten des Jahres 2017 wurden 273.000 Klagen gegen BAMF-Entscheidungen eingereicht und 100.000 Urteile gesprochen. Knapp die Hälfte der Kläger hatte Erfolg, unter ihnen wiederum viele, die sich, so wie Chalid M., nicht mit dem subsidiären Schutz ohne Recht auf Familiennachzug zufriedengeben wollten.

Der Richter, der in M.s Sache nach Aktenlage zu entscheiden hatte, kannte nicht die gesamte Vorgeschichte des Klägers. In den Unterlagen, die das BAMF übersandt habe, sei kein Hinweis auf eine frühere Verurteilung enthalten gewesen, sagt ein Sprecher der Gerichts. Somit auch kein psychiatrisches Gutachten mit Zweifeln an Chalid M.s Vita. Er könne sich nicht spekulativ dazu äußern, was gewesen wäre, wenn, lässt der Gerichtssprecher wissen. Aber bei begründeten Zweifeln an der Herkunft und Staatsangehörigkeit des Herrn M. wäre der Fall wohl anders bewertet worden.

Acht Monate nach der für ihn so günstigen Entscheidung des Verwaltungsgerichts war Chalid M. zum vorerst letzten Mal ein Fall für die deutsche Justiz. Nach der Attacke auf die zehnjährige Marie musste er sich wegen sexueller Nötigung und Missbrauch eines Kindes verantworten. Der Tübinger Psychiater Peter Winckler hatte ein zweites Gutachten über ihn angefertigt. Einen Probanden wie diesen habe er selten gehabt, so Winckler. M. sehe sich außerhalb jeder sozialen Gemeinschaft, sei dissozial, massiv gestört, vielleicht sogar „ein klassischer Psychopath“. Um Letzteres sicher sagen zu können, müsse er allerdings M.s Geschichte kennen, sagte Winckler. Und die bleibe auch für den Gutachter „im Grunde eine Blackbox“.

Verurteilung wegen schwerer sexueller Nötigung und Kindesmissbrauchs

Fest stehe nur, dass M. seit seiner Ankunft in Deutschland jede Regel missachtet habe und sich ohne Skrupel nehme, was er wolle. Die Prognose des Experten: So lange der Mann sich nicht mit sich selbst auseinandersetze, bleibe er sehr gefährlich. Und dass er zur Selbstreflexion bislang nicht neigt, konnten auch weniger Fachkundige während des Prozesses erleben. Etwa als M. die Mutter von Marie während ihrer Zeugenaussage belehrte: „Das Mädchen hätte besser mit dem Bus in die Schule fahren sollen.“

Am Ende hat auch das Landgericht Tübingen das Rätsel Chalid M. nicht lösen können. Die Staatsanwältin sagte in ihrem Plädoyer, er sei womöglich „eine gefakte Existenz“: „Ich weiß nicht, wer er ist, woher er kommt und was er wirklich für eine Geschichte hat.“ In der vergangenen Woche wurde M. wegen schwerer sexueller Nötigung und Kindesmissbrauchs zu fünf Jahren und neun Monaten Gefängnis verurteilt. Auf die Haft folgt möglicherweise die Sicherungsverwahrung.

*Namen von Opfer und Täter geändert

Quelle: stern

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